Hyperaktivität

Aufmerksamkeits-Defizit-Störung - ADS


 

 

 

Das Kind ist gestört

Hyperaktivität überall - die wundersame Vermehrung behandlungsbedürftiger Auffälligkeiten und die Heilung versprechenden Ratgeber / Von Klaus Weber

Ist das noch normal? Es scheint, als wimmele es plötzlich vor kleinen Zappelphilippen und Kindern mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Die Hintergründe dieses Etikettierungs- und "Entstörungs"-Booms analysiert Klaus Weber, Professor für Klinische Psychologie an der FH Frankfurt /Main. Weber arbeitete als Kinder- und Jugendlichentherapeut mit so genannten hyperaktiven Kindern. Wir dokumentieren in überarbeiteter Fassung den Vortrag, den Weber auf einem Münchener Symposium gehalten hat. Der Vortrag ist abgedruckt im aktuellen Forum Kritische Psychologie Nr. 46, Argument Verlag Hamburg.

 

 

Bei der Durchsicht diverser Ratgeber in Erziehungsfragen und insbesondere in Bezug auf das Phänomen der "Hyperaktivität" komme ich zu folgenden Ergebnissen:

1.Es besteht eine enorme Diskrepanz zwischen der Einfachheit von Ratschlägen in Erziehungsfragen auf der einen Seite und der gleichzeitig behaupteten permanenten Überforderung von Eltern auf der anderen. Wenn es stimmt, dass einfache Tests, einfache Spiele, einfache Übungen schnell zum Erfolg führen, dann sind diejenigen Eltern, die überfordert sind, entweder zu dumm, um selbst auf solch einfache Ideen zu kommen, oder aber die Ratgeber behaupten etwas Falsches.

2.Die Ratgeber stellen Kinder als Objekte vor, die durch die Anwendung verschiedener Techniken und Methoden als behandelbar, verbesserbar oder reparierbar erscheinen. So heißt es, die Eltern könnten bei Problemen "leicht gegensteuern", sie könnten selbst "sinnvolle Trainingsprogramme zusammenstellen" und mit ihrem Kind "zu Hause täglich 20-30 Minuten arbeiten", um bspw. eine Aufmerksamkeitsstörung zu mildern oder aber um eine "Störung anzupacken und zu überwinden". Die Kinder, die man in den Buchtiteln ADS-Kinder, Zappelphilipp oder Störenfrieda nennt, tauchen in den Werbetexten lediglich als Objekte solcher Maßnahmen auf.

3.Die propagierten Techniken und Methoden zur Entstörung der Kinder orientieren sich an einem meist nicht offen ausgesprochenen Bild kindlicher Normalität, die quasi naturhaft vorgegeben ist. Dabei wird behauptet, es gebe "natürliche Phasen der körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung", die permanent gefährdet seien durch "mögliche Störungen" der Kinder. Diese Störungen werden beim Namen genannt: 10-15 Prozent aller Kinder gelten als "hyperaktiv bzw. aufmerksamkeitsgestört", 5-10 Prozent "leiden unter Lernstörungen", unzählige Babys "schreien sehr häufig und scheinbar ohne Grund".

4.Zuletzt kann man in der Ratgeberliteratur für Eltern erkennen, dass gesellschaftliche Zusammenhänge für die so genannten Störungen der Kinder bzw. für die Vorgehensweisen der Erwachsenen keine Rolle spielen. So geht es zwar darum, dass Eltern verhindern sollen, dass das Kind frustrierende Schulerfahrungen macht, oder darum, wie Eltern in der Taschengeldpolitik durch "geldliche Zulagen die Schulmotivation von Jugendlichen unterstützen können". In Frage gestellt wird jedoch an keiner Stelle, ob die Institution Schule selbst, die Form des schulischen Unterrichts, die Einteilung des Stundenplans ohne Beteiligung der SchülerInnen oder die Präsentation des Lehrstoffs durch den Lehrer ein Problem darstellen könnten, oder inwiefern die Werbestrategien von Mode- oder Handy-Industrie dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche sich in den letzten Jahren mehr und mehr verschulden.

Ganz selbstverständlich wird in den Ratgebern von den politischen Entwicklungen abgesehen, die weltweit sowohl Arbeits- sowie Lebensweisen der Menschen und damit auch die kindliche Lebenswelt in einem rasantem Tempo verändern, so dass wir mit der Wahrnehmung und Erklärung dieser Veränderungen kaum nachkommen.

Aus den vier genannten Problembereichen, die sich bei einer ersten Betrachtung der Ratgeberliteratur zeigen, ergeben sich nun folgende Fragen:

- Wenn die Probleme und Störungen leicht zu lösen sind, wieso benötigen Eltern dann unzählige Hilfen dazu?

- Wieso finden sich in der Ratgeberliteratur die Standpunkte, die ein Kind bezüglich eines Problems einnehmen könnte, nicht wieder?

- Was ist ein normales Kind bzw. wodurch zeichnet sich eine normale kindliche Entwicklung aus, und ab wann gilt ein Verhalten als gestört bzw. hyperaktiv?

- Wieso reden Ratgeber nie oder selten über die Probleme, die durch gesellschaftliche Verhältnisse, politische Entscheidungen oder institutionelle Vorgaben (wie zum Beispiel die Organisation des Lernens in der Schule) entstehen, sondern immer nur von den individuellen Problemen und Störungen, die Kinder scheinbar haben und die von den Eltern gelöst werden müssen, wollen diese nicht als erziehungsunfähig gelten?

Die letzte Frage ist relativ leicht zu beantworten: Würde die Ratgeberliteratur die Komplexität des Zusammenhangs individueller Problemlagen und gesellschaftlicher Strukturen darstellen - was durchaus auch in verständlicher Sprache möglich ist -, dann würde schnell klar werden, dass eine einfache Lösung bei einer komplexen Problematik nicht möglich ist. Die marktschreierische Anpreisung von Heils- und Heilungsversprechen gegenüber den Eltern, die mit dem Kauf eines Ratgebers glauben sollen, ihr Problem schnell und sicher in den Griff zu bekommen, wäre nicht mehr möglich.

Insofern ist die Ratgeberliteratur die Form, in der zwei Interessen zum Ausdruck kommen: Einerseits trägt Ratgeberliteratur zur Stabilisierung einer Ideologie bei, die den Menschen Lösungen verspricht, ohne gleichzeitig die Gründe ihrer Probleme zu nennen, oder anders gesagt: Ratgeber verschleiern, dass die heute formal vorhandenen Entscheidungsspielräume faktisch z. T. stark eingeschränkt sind, während durch die gestiegenen Auswahlmöglichkeiten an Erziehungsmethoden auch die subjektiven Anforderungen an die Eltern gestiegen sind; andererseits geht es Verlagen und Buchhändlern schlicht darum, möglichst viel Profit aus dieser individuellen Verunsicherung von Eltern und Erziehern zu schlagen.

Wann ist ein Kind normal?

Ich wende mich also der Frage zu, wann ein Kind normal ist und wann es als gestört bezeichnet wird. Im Alltagssprachlichen würden wir schlicht behaupten, normal ist ein Kind dann, wenn es so ist wie die Mehrheit der Kinder im selben Alter. Diese Definition wird den meisten aber zu primitiv sein. Ich habe deshalb in gängigen Lehrbüchern der Klinischen Psychologie, die sich für individuelle Störungen zuständig fühlt, nachgeschlagen und folgende Aussagen zur Frage der Normalität gefunden:

Im Vorwort von Reinecker, einem der wichtigsten Lehrbücher der deutschsprachigen klinischen Psychologie, ist lediglich zu lesen, dass "im Mittelpunkt des Lehrbuchs einzelne Patienten mit ihren unterschiedlichen Problemen" stünden; diese Probleme werden dann umgehend in "Störungen" umbenannt, ohne dass auch nur ein Argument dafür geliefert würde, wie aus Problemen, die eine Person ja mit etwas oder jemandem hat, eine Störung wird, die in dieser Person selbst liegen soll. Jegliche Kritik am Störungs-Konzept wird im Einleitungsbeitrag des Lehrbuchs damit abgetan, dass eine "Klassifikation psychischer Störungen durchaus den Menschen zugute" komme, weil ja erst die Feststellung von Störungen die Grundlage für eine adäquate Theorie und Therapie dieser Störungen liefern könne. Etwas einfacher ausgedrückt, ist dies schnell als Zirkelschluss entlarvt: "Wir müssen behaupten, dass die Störungen in den KlientInnen liegen, weil wir sonst keine psychologische Theorie über gestörte Menschen entwickeln könnten."

Als Beispiel dafür, wie nützlich die Klassifikation psychischer Störungen für die Menschen sei, weist der Beitrag darauf hin, dass "bei schizophrenen Psychosen Neuroleptika indiziert sind", wohingegen zur Behandlung der exogenen Depression Antidepressiva eingesetzt würden. Würde man nun aber solche psychischen Störungen verwechseln, könne dies durchaus tödliche Folgen für die KlientInnen haben.

Ich will diese Lehrbuch-Argumentation auf eine so genannte Störung übertragen, die seit ca. 20 Jahren in den USA und in der BRD Furore macht und die vorher als solche nicht bekannt war: das hyperkinetische Syndrom (HKS), auch Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (ADS) genannt.

1.Nicht wenige Kinder verhalten sich auf eine Art und Weise, die den Erwachsenen und u. U. auch ihnen selbst Probleme bereitet: Sie sind nicht bei der Sache, wollen sich nicht mit dem beschäftigen, was die erwachsenen Lehrer oder Eltern wollen, sie sitzen nicht länger als 5 oder 10 Minuten auf ihrem Stuhl und sie plappern, wie es ihnen einfällt. Das Lehrbuch "Klinische Psychologie" empfiehlt uns nun als ersten Schritt, diese relativ uneinheitlichen Handlungen mit einem Etikett zu versehen, das den Störungsbegriff beinhaltet. Also nennen wir es Aufmerksamkeits-Defizit-Störung oder HKS, was meint, dass sich das Kind im Verhältnis zum normalen Kind zu viel und zu oft bewegt.

2.Als zweiten Schritt empfiehlt das Lehrbuch, eine Therapie zu finden, die gegen diese Störung eingesetzt werden kann, um sie "zu bekämpfen". Historisch spielte sich die Suche nach einer Therapie jedoch etwas anders ab: Die komplexen Ursachen des eigenwilligen kindlichen Handelns waren noch nicht ansatzweise erforscht, da präsentierte vor mehr als 20 Jahren die US-amerikanische Pharmaindustrie bereits ein Therapeutikum gegen diese Störung: Es hieß Ritalin und sollte dazu führen, dass Kinder, sobald sie dieses Therapeutikum schlucken, sich so verhalten, wie es Erwachsenen angenehm ist. Die so therapierten Kinder sind vielleicht nicht allzu aufmerksam und wirken manchmal sogar eher abwesend, aber die diagnostizierte Störung ist nach Ritalin-Einnahme auf alle Fälle nicht mehr vorhanden.

3.Wie wir aus dem Lehrbuch erfahren haben, kommt sowohl die Diagnose als auch die Therapie "durchaus dem Menschen zugute". Würde man nämlich die Störung des Kindes nicht als Hyperaktivität erkennen, sondern sie beispielsweise mit einer kindlichen Depression verwechseln und das Kind aus diesem Grund eine Überdosis Tavor schlucken lassen, könnte es wegen dieser falschen Diagnose sterben.

Soweit zur Argumentationsweise der klinischen Psychologie über den Sinn, Störungen als Störungen zu bezeichnen. Eine Antwort darauf, was normal ist und was nicht, kann uns dieses Lehrbuch nicht geben. Es teilt uns aber wenigstens mit, dass wir unsere Kinder problemlos dem psychologischen Fachmann übereignen können, anstatt sie aus Versehen mit der falschen Therapie zu töten.

Normal ist, was normal ist

Die Regel, dass normal ist, was das je einzelne Kind als normal für sich selbst versteht, gilt, so lernen wir aus dem Lehrbuch, so lange es keine Bekanntschaft mit Eltern, Lehrern und vor allem Psychologen macht. Und die Regel ist davon abhängig, welche Entdeckungen der Pharmaindustrie gerade am profitträchtigsten sind. Nicht ohne Grund waren die Ritalin-Produzenten die ersten, die mit Hochglanzbroschüren ÄrztInnen, LehrerInnen und PsychologInnen in den USA darüber aufklärten, dass es eine neue kindliche Störung zu entdecken gebe, gegen die ein neues Wundermittel bereits bereitstehe: das HKS.

In den Lehrbüchern der Psychologie finden wir weder eine klare Definition darüber, was normal sein soll, noch gibt es bei genauer Betrachtung einen Unterschied zwischen der alltagssprachlichen Verwendung des Normalitätsbegriffs und dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Wenn nun die alltagssprachliche Behauptung stimmt, ein normales Kind sei dasjenige, das so ist, wie alle anderen in seinem Alter auch, dann ergeben sich für Eltern, Lehrer und Psychologen folgende Fragen:

1.Erwachsene stellen tagtäglich fest, dass jedes Kind in seiner Art zu denken, zu reden, zu fühlen und zu handeln sich von anderen Kinder genau so unterscheidet wie auch wir Erwachsene verschiedene Persönlichkeiten sind. Trotz dieser zum Teil großen Unterschiede zwischen uns, die ja nicht gerade dafür sprechen, dass wir normal im Sinne von durchschnittlich sind, gehen wir keineswegs davon aus, dass diese Ansammlung von Normabweichungen unnormal wäre.

Wird dagegen über Kinder und ihr eigenwilliges Verhalten gesprochen, landen Eltern unverzüglich im Störungs- und Abweichungsdiskurs: "Kann sie schon laufen?", "Hat er schon Zähne?", "Mit acht Monaten fremdelt ein Kind halt", "Sie wiegt genau so viel, wie es in der Tabelle steht" usw. usf. Angesichts der heutzutage durch Eltern und Erzieher im Übermaß festgestellten kindlichen Störungen und der damit einhergehenden Maßnahmen, die zu deren Behebung unabdingbar sein sollen, stellt sich die Frage, ob es in früheren Zeiten weniger gestörte Kinder gab oder wie es sonst zu erklären ist, dass wir Erwachsenen, unsere Eltern und Großeltern überhaupt lebenstüchtig werden konnten ohne Ratgeber, Elternzeitschriften, Kindernormierungstabellen und Erziehungsberatungsstellen.

2.Die zweite Frage: Wieso gibt es angesichts der Unterschiedlichkeit und Vielfalt kindlicher Entwicklungen den scheinbar unausweichlichen Zwang, feststellen zu müssen, dass (m)ein Kind normal im Sinne von durchschnittlich bzw. mittelmäßig ist? Und wie verhält sich diese Feststellung zu der ebenfalls zu konstatierenden Tatsache, dass wir Erwachsenen keinesfalls als "normal" und durchschnittlich gelten wollen; vielmehr bestehen wir darauf, dass wir ein eigenes, oder gar eigenwilliges, besonderes Leben führen und keinesfalls normiert und angepasst seien.

Für die erste Frage danach, wieso es heute so erscheint, als könne man nur noch mit Hilfe von Ratgebern kochen, Blumen arrangieren oder Kinder erziehen, während diese Dinge früher irgendwie alle von alleine zu funktionieren schienen, findet sich keine einfache Antwort.

Einerseits kann man es als Fortschritt bezeichnen, dass Kindheit und Jugend als Lebensphasen, die sich erst seit dem 17./18. Jahrhundert etabliert haben, dazu beitrugen, dass Kinderarbeit in Familie und Fabrik auf ein Minimum zurückging. Andererseits hängt die Entstehung von Kindheit als Lebensphase unweigerlich damit zusammen, dass die sich etablierende Industrie qualifizierte Arbeitskräfte benötigte, deren Arbeits- und Lebensweisen so entwickelt sein sollten, dass sie reibungslos und ohne Widersprechen in die industrielle Maschinerie eingepasst und bei Bedarf von ihr ausgespuckt werden konnten.

Welcher Ort zur Einübung dieser Tugenden eignet sich dazu besser als die Familie, in der die zukünftigen Arbeitskräfte erzogen werden? Der Staat fordert gehorsame Untertanen, und die Fabrikherren benötigen disziplinierte und arbeitswillige Individuen. Erziehung als bewusstes Engagement von Erwachsenen für die freie Entfaltung der (Kinder) und die Schaffung entsprechender Bedingungen war unter diesen Verhältnissen kaum vorstellbar. Die Erziehungsziele und -methoden waren klar definiert und normiert, zudem waren sie durch die Klassenlagen der Familien meist eindeutig bestimmt.

Lernstörungen von Kindern, sollte es sie überhaupt als solche gegeben haben, führten in Proletarierfamilien nicht zum Konsultieren eines Ratgebers oder gar eines Psychologen, sondern zur Einsicht in die Notwendigkeit, das Kind als dumme, ungelernte Arbeitskraft dem Markt zur Verfügung stellen zu müssen. Davon abgesehen hätte die Mehrzahl der Familien schlicht keine Zeit gehabt, Ratgeber zu Erziehungsfragen zu lesen.

Etwas anders stellt sich dies für die bürgerliche Familie dar. Dort entstand im 18. Jahrhundert eine von Ratgeberliteratur in Fragen der Ernährung, Erziehung, Hygiene, Moral regulierte Lebensweise der Hausfrauen, zentriert um die Ausdehnung ihrer Mutterpflichten.

Nun zur Beantwortung der zweiten Frage nach dem Widerspruch zwischen dem elterlichen Bedürfnis nach normalen Kindern und deren gleichzeitigem Wunsch, selbst als besondere Menschen und nicht als Herde blökender Schafe wahrgenommen zu werden. Grundlage für diesen Widerspruch ist die nicht zu bestreitende Veränderung von Arbeits- und Lebensweisen, damit von Erziehungszielen und -methoden im neoliberalen Kapitalismus. Die Kompetenzen, die Kinder und Jugendliche für eine völlig veränderte Wirtschaftsformation auszubilden haben, sind einerseits vielfältiger und anspruchsvoller, andererseits aber (wie die Produktivkräfte auch) einem raschen Wandel unterworfen, der dazu führt, dass gestern geltende Erziehungsmaximen morgen schon wieder überflüssig und veraltet sein können.

In dieser Situation, in der sich fast alles verändert, kann das (konservative) Beharren auf Normalität Sicherheit und Ruhe im Sturm geben. Doch der Normalitätsdiskurs ist selbst wiederum funktional für die Aufrechterhaltung der Ohnmachts- bzw. Machtverhältnisse, in denen sich Eltern und Erzieher gefangen sehen. Denn dieser Normalitätsdiskurs funktioniert so, dass wir uns ihm kaum entziehen können.

Nehmen wir erneut das Beispiel Hyperaktivität: Bei Herrn und Frau Müller ruft am frühen Abend die Lehrerin des in die erste Klasse gekommenen Sohnes Fritz an und teilt den Eltern mit, Fritz störe unentwegt den Unterricht durch Schwätzen mit den neben ihn sitzenden Kindern und durch Zwischenrufe, die nichts mit dem Unterrichtsstoff zu tun hätten. So wie sich Fritz verhalte, habe sie noch selten Kinder erlebt, das könne nicht normal sein. Sie sei schon über 20 Jahre Lehrerin und sei überrascht, dass den Eltern Fritz' Verhalten bisher noch nicht aufgefallen sei. Sie habe vor kurzem einen Fachartikel in einer Zeitschrift gelesen und vermute, Fritz sei eines derjenigen Kinder, die an einer Aufmerksamkeitsstörung bzw. an Hyperaktivität leiden. Die Eltern sollten doch ein Gespräch beim Kinderarzt vereinbaren, um abzuklären, ob Fritz geholfen werden könne.

Was sollen Fritzens Eltern nun tun? Widersprechen sie der Lehrerin mit dem Hinweis darauf, dass es ja auch Ursachen im Schulalltags oder in der Beziehung Fritz' zur Lehrerin geben könne, die mit seinem Verhalten zu tun hätten, geraten sie als Verantwortliche für ihres Sohnes aufsässiges Verhalten ebenfalls ins Visier nach dem Motto: "Kein Wunder, dass bei solchen Eltern ein gestörtes Kind herauskommt".

Stimmen sie der Lehrerin zu, liefern sie ihren Sohn ungefragt den ideologischen Mächten sowie den Professionen des Normalisierungs- und Störungsdiskurses, also Psychologen und Kinderärzten, aus. Angenommen, die Eltern sind mit Fritz, so wie er ist, einverstanden, dann können sie es in Bezug auf die Normalisierungsstrategien, die sie im Sinne der Lehrerin umsetzen sollen, nur falsch machen. Und genau dadurch, dass die Eltern von Fritz nach dem Anruf der Lehrerin hilflos und verunsichert sind, hat der Normalisierungsdiskurs bereits seine Macht bewiesen: Durch die Behauptung einer Norm, die aber inhaltlich nicht weiter konkretisiert wird, werden die Abweichler und die Störer zur Ordnung gerufen, während die im Normbereich Verbliebenen permanent Angst haben müssen, die Grenzen dieser Ordnung zu überschreiten.

Was tun? Alternativen zur Erziehung nach Maß

Viele elterliche Sprech-, Denk- und Handlungsweisen spiegeln die Propaganda wider, die sie tagtäglich in wissenschaftlichen Abhandlungen ebenso wie in gut gemeinten Ratgebern finden und die dazu führt, dass Kinder behandelt werden wie Hunde, die abgerichtet, oder wie Pferde, die dressiert werden sollen. Die heimlichen Botschaften darin für Eltern lauten:

1.Elterliche Macht, wenn sie in Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Ordnung und damit im Rahmen der herrschenden Normalitätsvorstellungen ausgeübt wird, ist gar keine Macht, sondern das gute Recht der Eltern.

2.Eltern haben, wenn sie festgestellt haben, dass ihr Kind die Regeln verletzt, das Recht, das Kind zu denunzieren. Dessen Eigensinn wird zur Tyrannei gegen Eltern umgedeutet, damit diese sich in der Rolle des Opfers einerseits bedauern lassen und andererseits begründen können, wieso ihnen das Recht zusteht, die Macht des Tyrannen zu brechen.

3.Das Zusammenleben zwischen Kindern und Eltern darf auf keinen Fall etwas mit Konflikt, mit Streiten, mit unlösbaren Problemen zu tun haben. Nicht die beteiligten Personen handeln im Rahmen selbst gesetzter Regeln die Lösungen ihrer Probleme aus, sondern vorhandene, scheinbar vernünftige Prinzipien und Regeln müssen eingehalten werden. Wer diese nicht in Frage zu stellenden Regeln nicht einhalten will, wird wie ein Feind behandelt.

4.Es gibt Fragen, die dürfen nicht gestellt werden; weder vom Kind noch von den Eltern. Sie zu stellen, könnte bedeuten, dass Kinder und Eltern je für sich merken würden, dass etwas faul ist an dem, was ihnen der Therapeutenbär geraten hat, dass etwas nicht stimmt mit den Regeln und Prinzipien oder gar mit der Gesellschaft, in der sie gelten.

 

09.07.2002

www.fr-aktuell.de/fr/160/t160001.htm

 

 

 


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