Schwarze Pädagogik


 

Auch wenn die DDR-Pädagogik nicht nur schwarz war, sondern in der Praxis durchaus differenziert von liberal bis autoritär repressiv, so bleibt festzuhalten, dass in nicht wenigen Fällen die Rechte von Kindern, Jugendlichen und Eltern massiv missachtet und mit Füßen getreten wurden. Die schwarze Pädagogik ist allerdings keine Erfindung der DDR, sondern schon viel älter. Sie reicht mindestens zurück bis zu Daniel Gottlieb Moritz Schreber, geboren 15.10.1808, gestorben 10.11.1861, in Leipzig, über den noch in "Meyers Grosses Taschenlexikon", (West)Ausgabe 1981 nur Gutes zu lesen ist.

"Leitete ab 1844 in Leipzig eine orthopädische Heilanstalt; schuf Spielplätze, die mit Kinderbeeten und Gärten für Erwachsene verbunden waren, aus denen später die sogenannten Schrebergärten entstanden. Schreber setzte sich vor allem für eine Regform der körperlichen Erziehung und die Einführung der Jugendgymnastik ein."

Und dass die Missachtung elementarer Rechte von Kindern und Vätern in der Bundesrepublik bis heute Tradition hat, brauchen wir den Besuchern von vaeternotruf.de hier sicher nicht noch einmal ausführen.

 


 

 

 

DDR-VERGANGENHEIT / Vom Jugendwerkhof Torgau ist nicht viel übrig geblieben. Nur die Erinnerung der Opfer

Der Schock wirkt weiter

Schule schwänzen oder die falsche Musik hören – das reichte für die Einweisung in die Erziehungsanstalt. Nun trafen sich zum ersten Mal die Ehemaligen.

 

DRILL: Auf der Tafel standen einst die Namen der Bestraften und Belobigten. Foto: Helmuth Frauendorfer

 

Autor: HELMUTH FRAUENDORFER

Seine Stimme zittert. Er ist aufgeregt. Er steht so nahe zur Tür, als wollte er sicher sein, dass er nur einen Schritt über das Laminat machen muss, um draußen zu sein, um diesen Raum mit den weißen Tapeten und der holzgetäfelten dunklen Decke verlassen zu können. Dabei hat er keinen Grund mehr zu flüchten.

Ein Foto von ihm hängt zwei Räume weiter, siebzehn war Stefan Lauter damals. Er könnte sich seiner selbst sicher sein und seiner Biografie. Aber ganz sicher ist hier keiner. Und das merkt man auch Stefan Lauters Stimme an, als er sagt: „Am liebsten wäre ich 1985 geboren, nicht 1967.“

Dann wäre ihm vieles erspart geblieben, wie den anderen mehr als dreißig „Ehemaligen“ auch, die in diesem Raum sitzen an diesem schönen Herbsttag, diesmal aber freiwillig. Denn hier, im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, wurde ihre Jugend gebogen und gebrochen von Erziehern der Deutschen ach so Demokratischen Republik. Es ist das erste Treffen der ehemaligen Insassen.

„Auf Biegen und Brechen“ – so heißt auch die Dauerausstellung in der Erinnerungs- und Begegnungsstätte Torgau, in der Fotos von Stefan Lauter und anderen hängen, zusammen mit den wenigen Bildern, die es noch von der Umerziehungsanstalt gibt.

Die Ausstellung wurde erst Ende Mai dieses Jahres eröffnet. Etwa 1200 Besucher fanden bislang den Weg dahin. Neben Tagesbesuchern waren das Schüler, Gruppen aus der Erwachsenenbildung und internationale Gruppen, wie unlängst Touristen aus der Ukraine, für die der Bezug zum Pädagogen Makarenko besonders spannend war.

Insgesamt ist nicht viel übrig geblieben. Eine Gittertür, zwei Pritschen, zwei Kübel, ein Stück Stacheldraht. Das Verwaltungsgebäude steht noch da, ist heute Gedenkstätte. Die anderen Trakte, die Zellen, der „Fuchsbau“, die Schleuse, die Sturmbahn, alles umgebaut, eine feine Wohnsiedlung ist daraus geworden.

Die Mauer hinter der Mauer

Die Lobby der Ehemaligen aus dem Geschlossenen Jugendwerkhof war nicht stark genug, sodass die Treuhand-Liegenschaftsverwaltung die seit 1990 leer stehende Immobilie 1996 an einen privaten Investor verkaufte. Mico-Harriet Fabri hat vier Monate in der Hölle von Torgau verbracht: „Der Gedanke, dass dort Menschen ruhig schlafen, wo wir früher beim ersten Gitter- und Schlüsselklappern aufsprangen, unsere Betten einrissen, in die Schuhe sprangen und uns für einen Tag voller Torturen aufstellten, der lässt mich frösteln.“

Der Geschlossene Jugendwerkhof war die verschärfteste Form der militaristischen Maßregelung und Umerziehung von Kindern und Jugendlichen, um sie kollektiv dem sozialistischen Menschenbild gleich machen zu können. Man brauchte als Jugendlicher bloß ein bisschen anders zu sein – nur wenige Male die Schule schwänzen, die falsche Kleidung tragen, eine eigene Meinung haben, sich den Pionier- und FDJ-Zwängen nicht unterordnen –, schon landete man im Jugendwerkhof.

Vor allem, wenn man keinen Rückhalt in der Familie hatte. Da entschieden Jugendämter, Lehrer und Erzieher willkürlich darüber, ob sich jemand außerhalb oder innerhalb von Stacheldraht und Mauern bewegte. Und das innerhalb der sowieso von Mauer und Stacheldraht umgebenen DDR. Die Mauern hinter der Mauer.

Mico-Harriet Fabri stammt aus einer solchen Familie, die ihr keinen Rückhalt bot und sie dem Messer der DDR-Erziehung auslieferte. Als Kind lebt sie bei der Mutter und erlebt vier Scheidungen, Prügel, Instrumentalisierung, Misshandlung. Mal steckt ihre Mutter sie geknebelt in einen Schuhschrank, mal bewahrt sie sie als Paket verschnürt im Keller auf, ein anderes Mal hält sie das Kind an den Füßen aus dem fünften Stock und ruft ihm zu: „Wenn du nicht machst, was ich sage, lasse ich los.“

Die DDR-Pädagogen vermerken später lapidar in ihrer Akte: „Gestörtes Mutter-Kind-Verhältnis führte zu Erziehungsproblemen.“ Im Kinderheim Calbe ist Mico-Harriet Fabri Klassenbeste, wird zwei Klassen hochgestuft und soll Gruppenratsvorsitzende werden – aber dazu müsste sie Jungpionier werden. Sie will nicht. Die Statuten gefallen ihr, auch später jene der FDJ.

Aber sie hat Fragen dazu. Warum es im alltäglichen Leben anders ist als in den Statuten beschrieben? Ihre Fragen sind unerwünscht. Später, als das Lehrfach Staatsbürgerkunde dazukommt, merkt sie, dass da gelogen wird, und verweigert die erwünschten Antworten; da ist sie nicht mehr Klassenbeste.

Über ihr Leben entscheiden andere. Weil ihre Mutter nicht in der Partei ist und sie wegen ihrer Fragen als „renitent“ gilt, wird sie 1987 in den Jugendwerkhof Bernburg eingewiesen. Keine Chance für eine Ausbildung. Stattdessen: Drill, Arbeit, keinerlei Freiheit. Gruppenzwänge, pädagogisch gewollt. Wenn jemand schlechte Arbeitsergebnisse hat, der Boden nicht richtig gewischt ist oder Mico-Harriet Fabri nichts zu den in den Nachrichten gepriesenen Errungenschaften der DDR sagen will, wird die ganze Gruppe bestraft. Danach verschwinden die Erzieher ganz bewusst.

„Dann durfte die Gruppe mich als Punchingball benutzen, dann war ich vogelfrei ausgeliefert. Und wenn 27 Mädchen ihren Frust an dir loslassen und jede froh ist, nicht selbst in der Mitte zu stehen, dann hältst du es nicht mehr aus.“

Das geschieht öfter, mit ihren 1,56 Metern ist sie meistens die Kleinste in der Gruppe. Sie flüchtet. Des Öfteren.

„Jeder Fahrradkeller, in dem ich schlief, jedes Waldstück machte mir weniger Angst als die im Jugendwerkhof nachts abgeschlossene Station.“

Entweichung – das offizielle Unwort für Flucht. Dafür gibt es Strafen. Vor der Gruppe, mit der Gruppe. Hackordnung. Einzelarrest. Das heißt dann im DDR-Deutsch der Pädagogen: „Eingliederung nach der Entweichung mit Rechenschaftslegung vor dem Kollektiv . . . scheiterten generell, da sie für keinerlei Kontaktaufnahme zugänglich war.“ Sie wird mit Medikamenten ruhig gestellt. Dann die Einlieferung nach Torgau. Die JWH-Direktorin vermerkt in der Akte: „Vorschläge für Erziehungsprozess in Torgau: Abbau der Kontrastellung.“

Zur Eröffnung dieser ersten Begegnung der Ehemaligen stellt Stefan Lauter verschiedene Fragen. „Was machen die Leute, die hier tätig waren?“ Und er zählte auf. Ehemalige Erzieher, die jetzt in karitativen Vereinen, in anderen Erziehungseinrichtungen tätig, ja sogar verbeamtet sind, während die meisten der Insassen eine geknickte Biografie haben, ihnen die Möglichkeit einer Ausbildung genommen wurde.

Viele sind auch nach der Wende dazu nicht mehr in der Lage und leben deshalb am Existenzminimum. Oder darunter. Wie Sonja B., die gerne lange Fingernägel hätte, sie aus Angst immer noch abknabbert, die bis heute nicht in der Lage ist, zu sagen, wenn ihr etwas nicht gefällt: So ausgelöscht wurde ihre Persönlichkeit.

Stefan Lauter erwähnt den DDR-Pädagogen Eberhard Mannschatz, der mitverantwortlich ist für die Jugendwerkhöfe, der heute in der Bildungspolitik der PDS mitmischt. Mannschatz formulierte die Aufgaben der Jugendwerkhöfe so: „Das Ziel der Umerziehung besteht darin, die . . . Besonderheiten in der Persönlichkeitsentwicklung zu überwinden, die Eigenheiten im Denken und Verhalten der Kinder und Jugendlichen zu beseitigen und damit die Voraussetzungen für eine normale Persönlichkeitsentwicklung zu schaffen.“

Mannschatz war bis 1977 Abteilungsleiter im Ministerium für Volksbildung, also der Handlanger und Vollstrecker von Margot Honecker. Bei einem Besuch in einem Jugendwerkhof fragt die Cheferzieherin der DDR eine Jugendliche, wie es ihr gehe. Diese antwortet: „Geht so.“ Die Folge der mangelnden Euphorie: für das Mädchen drei Tage Einzelarrest.

Weg mit der Westjeans!

Dass Mannschatz noch tätig ist, findet Stefan Lauter unerträglich. Er selbst kommt 1985 nach Torgau, denn „sein Denken und Handeln ist sehr durch westliche Einflüsse geprägt. Auch die kirchliche Beeinflussung hat hier einen großen Anteil.“

Stefan Lauter ist heute als politisch Verfolgter rehabilitiert, und seine Einweisung nach Torgau wurde als eine Rechtsstaatswidrigkeit gerichtlich anerkannt.

Anders im Fall Mico-Harriet Fabri; ihr wurde die Zeit in Torgau nicht anerkannt. Sie kämpft noch vor Gerichten.

Stefan Lauter sagt am Anfang der Begegnung auch: „Nicht aufgeben. Und schämt euch nicht. Lasst euch begutachten. Geht zu Therapeuten. Was man mit sich trägt, ist kein Zuckerschlecken.“

Mico-Harriet Fabri hat dreimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie hat im Jugendwerkhof Bernburg Schlimmes, Unerträgliches erlebt, sagt sie, aber Torgau war die Hölle.

Jeder „Neuzugang“ muss in der Schleuse zwischen den beiden verschlossenen Toren warten. Mico-Harriet Fabri steht fünf Stunden lang mit dem Gesicht zur Wand da. Ein anderer, René K., guckt bei seiner Einweisung durch das Schlüsselloch und muss deswegen unter anderem 200-mal schreiben: „Ich darf nicht durch das Schlüsselloch gucken.“ Er landet im Jugendwerkhof, weil er Plastikbeutel mit West-Reklame benutzt und sich geweigert hat, in der Schule die West-Jeans auszuziehen und im Slip nach Hause zu laufen.

In Torgau gibt es nur Anstaltskleidung. Nichts Privates soll da sein. Nach der Schleuse folgen drei Tage Arrest in einer Zelle mit einem Kübel und einer Pritsche, die man tagsüber nicht benutzen darf. Nach diesen Tagen ist jeder nur noch Kollektiv. Selbst beim Toilettengang. Verrichtungen auf Kommando. „Wer das nicht schaffte“, so Frau Fabri, „musste trotzdem das ganze Morgenprogramm absolvieren.“ Das beginnt um 5.30 Uhr mit Sport. Nach dem Sport die politische Indoktrination. Sport wird hier als Waffe eingesetzt. Wenn eine die Sturmbahn nicht schafft, muss die ganze Gruppe erneut antreten. Hackordnung. Oder sie wird vom Erzieher bestraft. Im Laufschritt eine Schubkarre mit einer schweren Bahnschwelle über den Hof schieben. Anketten am Gitter im Treppenbereich. Der „Torgauer Dreier“: Liegestütz, Hocke und Hockstrecksprung. Die häufigste Strafe: „Entengang“ – 20- oder 50-mal die drei Stockwerke rauf und runter, in der Hocke, mit den Händen hinter dem Kopf. Mico-Harriet Fabri zeigt es. Sie schafft drei Stufen. „Ich weiß nicht, wie ich es damals geschafft habe. Es war die Angst.“ Bei ihrer Ankunft in Torgau schafft sie es nicht. Dafür schlägt der Erzieher ihr den großen Schlüsselbund an den Kopf. Dagegen wehrt sie sich. Aber erst Jahre später. Im Oktober 2000 erwirkt sie eine rechtskräftige Strafe gegen diesen Erzieher wie auch gegen jenen, der ihr in der Arrestzelle den Kübel verweigert, „sodass sie sich nach mehreren Stunden in ihre Kleidung entleeren musste“ (Zitat aus dem Strafbefehl).

Nichts gesehen, nichts gehört

In Torgau ist jede Stunde des Tages und der Nacht durchorganisiert. Es gibt keine Individualität. Es gibt kein Entrinnen. Drei bis fünf Meter hohe Mauern trennen die Kinder und Jugendlichen vom Duft der Straße. Schließlich hat dieses Gebäude Tradition: 1901 Militäranstalt, nach dem Ersten Weltkrieg Gerichtsgefängnis, nach 1945 Untersuchungsgefängnis der sowjetischen Geheimpolizei NKWD, von 1952 bis 1963 Jugendgefängnis, und im Mai 1964 nimmt der Geschlossene Jugendwerkhof eifrig seine Arbeit auf, erst ein Jahr später wird seine Funktion auch gesetzlich verankert.

So übereifrig kommt auch im November 1989 ein Anruf vom Ministerium für Volksbildung, die Anstalt aufzulösen. Am 17. November wird der letzte Insasse entlassen und das Personal beginnt wegzureißen, was nach Gefängnis aussieht, und die Akten zu vernichten. Schließlich werden Erzieher als Fachpersonal übernommen für das Internat, das hier einzieht.

Für die Torgauer ist dieser Ort bis heute ein Problem, so Beate Senftleben, die Projektleiterin der Erinnerungs- und Begegnungsstätte. Viele wollen sich die Ausstellung erst gar nicht anschauen, sagen, eigentlich bräuchte man solche Einrichtungen jetzt noch für die Jugend von heute; andere wollen von dem Treiben hier nichts gewusst haben, haben die Schreie nie gehört; und wiederum andere sagen: „Wir schämen uns hinterher für das, was hier gewesen ist.“

Von alldem, was im November 1989 in Torgau geschieht, erfährt Mico-Harriet Fabri erst mal nichts. Sie sitzt im Jugendwerkhof Magdeburg. Die Mauer ist längst gefallen. Nicht für sie. Erst 1990 wird sie entlassen; traumatisiert von den Demütigungen. „Die haben mir eingeredet, ich sei eine Lügnerin, ein schlechter Mensch, und fast hätte ich es geglaubt. Jetzt bin ich dreißig und fühle mich als Loser. Der Glaube an Gerechtigkeit oder an irgendetwas ist erschöpft, und ich bin es auch.“

 

Die Fotosammlung „Auf Biegen und Brechen“ gibt es auch als Wanderausstellung bis zum 10.04.2004 in der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen zu sehen.

 

Externe Links:

www.jugendwerkhof.info

 www.jugendwerkhof-torgau.de

 

 

 

aus: "Rheinischer Merkur",

Nr. 47, 20.11.2003

http://www.rheinischer-merkur.de/aktuell/ku/ku_034704.html

 

 

 

 


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