Schwarze Schafe


 

 

 

Polizei findet gesuchten Ex-Richter nachts bei seiner Mutter

Donnerstag, 26. März 2009 15.23 Uhr

Düsseldorf (dpa/lnw) - Die Polizei hat in der Nacht zum Donnerstag in Neuss bei Düsseldorf einen per Haftbefehl gesuchten ehemaligen Richter bei seiner Mutter aufgespürt. Der 57-jährige Jurist war wegen gefährlicher Körperverletzung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden und zum Haftantritt nicht erschienen. Daraufhin wurde er per Haftbefehl zur Fahndung ausgeschrieben. Zuvor hatte der Bundesgerichtshof die Revision des Juristen gegen das Urteil abgelehnt.

Der 57-Jährige hatte mit einem kiloschweren Stein in einer Boutique in Neuss auf den Kopf seiner Ex-Frau eingeschlagen. Sie arbeitete dort als Verkäuferin. Drei Passanten hatten die Tat durch das Schaufenster beobachtet. Sie rannten in den Laden und hielten den 57-Jährigen fest. Das Opfer kam mit leichten Verletzungen am Kopf davon. Die Staatsanwaltschaft hatte sogar viereinhalb Jahre Haft wegen versuchten Totschlags gefordert.

Der inzwischen ins Gefängnis gebrachte Jurist war rund 20 Jahre lang Richter am Duisburger Amtsgericht und arbeitete zuletzt als Rechtsanwalt. Seine Ex-Frau hatte ausgesagt, der Mann habe sie nach der Scheidung immer wieder belästigt und bedroht. Beim Neusser Amtsgericht hatte sie bereits mehrere Einstweilige Verfügungen gegen ihren Ex-Mann erwirkt.

http://www.justiz.nrw.de/Presse/dpa_ticker/DPA_26037/index.php

 

 


 

 

 

Die Fesseln des Richters

700 Anfragen pro Jahr. Das war Amtsrichter Michael Irmler zu viel. Deshalb ließ er Bewohner von Pflegeheimen an die Betten fesseln, ohne die Notwendigkeit solcher „Fixierungen“ nachzuprüfen. Jetzt steht er wegen Freiheitsberaubung vor Gericht. Und mit ihm ein unmenschliches System

 

Von Philipp Maußhardt, Nürtingen

25.10.2008

 

Manchmal wünscht sich Michael Irmler die Zeit zurück, die er eigentlich verflucht hat. Jene Tage, an denen sich auf seinem Schreibtisch im Amtsgericht von Nürtingen die Aktenberge stapelten und er nicht mehr wusste, welchen Stapel er zuerst abarbeiten sollte. Den geplanten Zoobesuch mit seiner Tochter hatte er nun schon das dritte Mal verschoben, und sein Pferd stand seit Tagen ungesattelt im Stall. Die Ehe existierte nur noch auf dem Papier, seine Mutter war schwer krank … Irmler stöhnte über die nie kleiner werdende Flut von Verfahren. Mietstreitigkeiten, Verkehrsdelikte, Nachbarschaftsklagen.

Und dann waren da noch die vielen Fälle, in denen er als „Betreuungsrichter“ über Bettgitter für Demenzkranke oder Bauchgurte für Rollstuhlfahrer zu entscheiden hatte. Etwa zwei Mal jeden Tag meldeten sich Senioren- und Pflegeheime aus der Umgebung, um von ihm für die aus ihrer Sicht notwendige „Fixierung“ von Heimbewohnern den richterlichen Segen zu erhalten. Irmler, der immer Richter hatte werden wollen, fühlte sich verraten und verkauft. Das war nicht der Traumberuf, für den er sich entschieden hatte.

Richter Irmler, randlose Brille, weißes Hemd, blaue Krawatte, sitzt dieser Tage wieder im Gerichtssaal, nur auf der gegenüber liegenden Seite des Richtertisches. Irmler ist angeklagt wegen Rechtsbeugung, Freiheitsberaubung, Urkundenfälschung in mindestens 62 Fällen.

Wann genau Amtsrichter Irmler damit begann, auf die ihm eigene Weise die Verfahren zu straffen und wieder mehr Zeit zu gewinnen, ist nicht genau belegt. Doch Richterkollegen erinnern sich daran, dass er darum bat, noch mehr Altenheime betreuen und dafür die lästigen Zivilverfahren abgeben zu dürfen. Die Anträge von Heimleitungen, ihre Patienten am Bett festzubinden oder durch Gitter vor dem Herausfallen zu schützen, hatten in den vergangenen Jahren ein Ausmaß angenommen, dass im kleinen Nürtinger Amtsgericht eine ganze Richterstelle damit ausgefüllt werden konnte. Mehr als 700 Anträge aus über 40 Heimen mussten bearbeitet werden. Richter Irmler war für alle Heime „rechts des Neckars“ zuständig. Und Irmler war erstaunlich schnell.

Kam wieder ein Fax, legte Irmler den Antrag erst einmal in eine Ablage und wartete, bis noch mehr dazukamen. Wegen eines einzelnen Patienten ins Auto zu steigen, möglicherweise bis auf die Schwäbische Alb hinaufzufahren, um dann am Bett eines nicht mehr ansprechbaren alten Menschen ein Häkchen in das Kästchen zu machen „Fixierung wird genehmigt“, das machte für ihn keinen Sinn. Er stellte stets Touren von vier oder mehr Patienten zusammen, damit sich die Fahrt auch lohnte. Dass dabei manche Anträge mehrere Tage wenn nicht sogar Wochen in seiner Ablage vergilbten, war Teil des „Irmler-Systems“.

Auch beim Besuch der Heime hatte der Richter den Zeitaufwand optimiert: Meist hingen im Eingangsbereich Listen mit den Namen der Heimbewohner, das genügte ihm, um auf seinem Zettel festzustellen: „Patient anwesend, Fixierung genehmigt.“ In mindestens 62 Fällen, so wird Irmler von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, habe er der Fixierung von Menschen zugestimmt, obwohl er sie nicht einmal persönlich an ihrem Bett aufgesucht habe. Bei dem 88-jährigen Herrn S. in einem Nürtinger Pflegeheim machte Irmler sein Häkchen – da war Herr S. schon einige Tage tot.

Rechtsbeugung nennt das Strafgesetzbuch ein solches Verhalten, dazu Urkundenfälschung und Freiheitsberaubung. Als am 9. November 2006 Kriminalbeamte in Begleitung einer Staatsanwältin das Privathaus und die Amtsräume des Richters durchsuchten, dämmerte es Irmler, dass er etwas falsch gemacht hatte. Nun sitzt der 45-jährige Amtsrichter schon den dritten Verhandlungstag im Gerichtssaal des Stuttgarter Landgerichts, und auf seinen hängenden Schultern liegt nicht nur die Last des eigenen Versagens, sondern die Last der ganzen Gesellschaft, die ihre Alten und pflegebedürftigen Menschen in Heime abschiebt, wo sie an Betten und Rollstühle geschnallt den Tod erwarten.

In den vergangenen zwei Jahren, nachdem er von seinem Richteramt vorläufig suspendiert worden war, hat Irmler das getan, was er als Richter auch tat: Akten wälzen. Nur waren es dieses Mal seine eigenen. „Was hätte ich tun sollen“; sinniert er, „wo Ärzte, Betreuer und Pflegepersonal doch eine solche Fixierung bereits für gut geheißen hatten?“ In 99 Prozent aller Fälle, so sagte ein anderer Amtsrichter im Zeugenstand aus, würden die Richter einem Antrag auf „freiheitsbeschränkende Maßnahmen“, wie es im besten Amtsdeutsch heißt, entsprechen. „Dieses Verfahren“, so der Zeuge, sei deshalb „eine einzige Farce“.

Tatsächlich steht in Saal 16 des Stuttgarter Landgerichts ein ganzes System vor Gericht. Ein menschenverachtendes System, das hilfsbedürftigen Menschen anstelle von Zuwendung immer öfter nur noch den Lederriemen oder das Eisengitter bereithält. Weil in den meisten Pflegeeinrichtungen das Personal fehlt, nehmen die Anträge auf Fixierungen vor allem während der Nachtzeit ständig zu. Auch, weil sich die Heime rechtlich absichern wollen und im Falle von Stürzen aus dem Bett die Regressforderungen der Angehörigen fürchten.

In München ergab eine Studie vor wenigen Jahren, dass von den rund 6000 untersuchten Heimbewohnern 41 Prozent zumindest zeitweise an Bett oder an den Rollstuhl „fixiert“ wurden. Eine erschreckende Zahl, die in anderen Regionen nicht viel niedriger liegen dürfte. Noch erschütternder ist das Ergebnis einer Untersuchung von Rechtsmedizinern der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie fanden heraus, dass im Zeitraum von 1997 bis 2006 insgesamt 29 Menschen in Münchner Heimen durch das fehlerhafte Anlegen der Gurte zu Tode kamen. Die meisten von ihnen hatten sich selbst stranguliert.

Das Arsenal von Fesseln und die Methoden, mit denen man Heimbewohner dingfest macht, sind ausgeklügelt: Um regelmäßiges Ausbüxen zu verhindern, legen Pfleger oftmals den Patienten Handfesseln, Fußfesseln, Körperfesseln oder Bauchgurte an, die die Bewohner nicht lösen können. Stühle mit „Sicherheitsgurt“, die sich vom Bewohner nicht lösen lassen, Verschließen des Zimmers oder der Pflegestation, Vortäuschung einer Verriegelung oder Verwendung von Trickschlössern gehören ebenso zum Repertoire viele Heime. Dazu wird häufig auch psychischer Druck ausgeübt („Die Türklinke steht unter Strom“), Schuhe werden weggenommen oder Drohungen ausgesprochen.

Wer verhaltensauffällig ist, häufig unruhig oder durch Demenzerkrankung nicht mehr Herr seiner Sinne, läuft am häufigsten Gefahr, „fixiert“ zu werden. Der Freiburger Rechts- und Verwaltungswissenschaftler Thomas Klie kämpft seit vielen Jahren gegen die seiner Meinung nach „viel zu häufige Anwendung“ dieser Methoden. In Deutschland, so schätzt Klie, werden pro Jahr rund 400 000 Menschen angebunden oder festgezurrt. Nur als „letztes Mittel“ lässt er solche Fixierung gelten, zusammen mit dem Bundesministerium für Familie hat er die Aktion „ReduFix“ gestartet, um durch Schulungen von Pflegepersonal die Zahl der Fixierungen in deutschen Heimen zu reduzieren.

Um Missbrauch zu begegnen, müssen seit 1992 Fixierungen von einem Betreuungsrichter genehmigt werden. Die Idee war wohl gut gemeint. Nur haben die dafür zuständigen Amtsgerichte dafür kein neues Personal erhalten. Über 700 Fälle allein im Nürtinger Gerichtsbezirk pro Jahr überforderten nicht nur Michael Irmler. Er sieht sich als Opfer, nicht als Täter, auch wenn er vor Gericht zugab, er hätte sich intensiver um den Einzelfall kümmern müssen. Dass er weder die Heime geschweige denn die einzelnen Bewohner aufgesucht habe und stattdessen nur auf dem Papier seine Einwilligung zur Fesselung gab, bestreitet er heftig. Davon aber hängt ab, ob das Gericht ihn wegen Rechtsbeugung verurteilt. Dann verliert Irmler nicht nur seinen Beamtenstatus, auch sein Pensionsanspruch als Richter ist dahin.

Als ein ehemaliger Richterkollege in den Zeugenstand tritt und erst einmal mit donnernder Stimme der Vorsitzenden Richterin eine kleine rechtliche Belehrung erteilt, sinkt Irmler noch tiefer in das Polster seines Angeklagtenstuhles. Sie haben ihn zum schwarzen Schaf gestempelt, denkt er wohl, und ein psychologischer Gutachter, der direkt hinter ihm sitzt, hat ihm „depressive Neigungen“ attestiert.

„Vielleicht“, so sinniert Irmler wenig später auf dem Gerichtsflur, „hat mich die Situation in den Pflegeheimen ja auch so deprimiert, dass ich es nicht mehr ausgehalten und ohne zu prüfen meine Zustimmung erteilt habe.“ Vielleicht. Sicher ist dagegen, dass der Gerichtssaal Nummer 16 im Stuttgarter Landgericht viel zu klein für diesen Prozess ist. Die Zuhörer und Medienvertreter stehen bis an die Wand gedrängt. Es bräuchte einen Marktplatz, eine riesige Halle, ja das ganze Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Denn dieser Prozess geht jeden an.

 

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/;art1117,2644569

 

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 25.10.2008)

 

 

 


 

 

 

Wegen Rechtsbeugung

Amtsrichter muss ins Gefängnis

Pflegeheim [Großansicht]

Das Anlegen eines Bauchgurts darf nicht vom Schreibtisch aus angeordnet werden.

Foto: factum/Weise

Stuttgart - Ein Nürtinger Amtsrichter hat alten Menschen in Heimen ohne Anhörung Bauchgurte und Bettgitter verordnet - jetzt hat das Landgericht Stuttgart ihn zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Hobby und Familie seien ihm wichtiger gewesen als seine Arbeit.

Von Susanne Janssen

 

Mit schnellen Schritten flüchtet der 45-jährige Amtsrichter aus dem Gerichtsgebäude. Den Fernsehkameras und Mikrofonen will er sich nach dem Urteil nicht stellen. Bis zuletzt hat der Angeklagte die Vorwürfe bestritten und nur einige Fehler eingeräumt, die aber jedem passieren könnten. Die 16. Strafkammer war anderer Ansicht: Sie verurteilt den 45-Jährigen zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe. Eine Bewährung ist bei dieser Höhe nicht mehr möglich.

Richterin glaubt dem Angeklagten nicht

Der suspendierte Amtsrichter aus Nürtingen hat nach Ansicht der Kammer in 47 Fällen das Recht gebeugt, indem er die Senioren, bei denen er über freiheitsentziehende Maßnahmen entscheiden sollte, nicht persönlich aufgesucht hat. "Dabei bestand eine konkrete Gefahr für die Betroffenen", erklärte die Vorsitzende Richterin Helga Müller. Sieben Fälle wertete das Gericht als Versuch, weil die Senioren zum Zeitpunkt der Anordnung schon verstorben waren. Dass der Angeklagte die Protokolle hier fingiert hatte, brachte die Ermittlungen gegen ihn ins Rollen.

Der Erklärung des Amtsrichters, er habe die Verstorbenen besuchen wollen, aber wohl mit anderen verwirrten alten Leuten gesprochen, schenkte Müller keinen Glauben: "Die Belegliste wird nach einem Todesfall in den Heimen am nächsten Tag, spätestens aber nach drei Tagen geändert."

Viele Zeugenaussagen hätten die Erklärung des Amtsrichters widerlegt: Ein Pflegedienstleiterin erklärte, der Richter habe die alten Leute gar nicht sehen wollen: "Das reicht schon so", habe er bei seinem Kurzbesuch erklärt. "Schwester Susi", mit der er eine Frau besucht haben wollte, hatte den Richter noch nie gesehen. Die Behauptung des Angeklagten, es sei möglich, nach Aktenlage zu entscheiden, wies Helga Müller ebenfalls zurück: "In allen Kommentaren steht klipp und klar, dass sich ein Richter einen persönlichen Eindruck verschaffen muss."

Bis zum Schluss keine Einsicht gezeigt

Die standardisierten Protokolle und Beschlüsse, bei denen nur Kreuzchen gemacht werden mussten, seien ein Beleg für die oberflächliche Arbeitsweise des Mannes. Einer Frau, die durchaus noch orientiert war und die Bettgitter ablehnte, wurde so durch zwei Kreuze die Freiheit entzogen. "Der Angeklagte hat in hohem Maße das Gesetz missachtet", erklärte die Vorsitzende Richterin. Dass die so verordneten Maßnahmen in den meisten Fällen gerechtfertigt waren, sei keine Entschuldigung.

Bis zum Schluss hatte der Amtsrichter keine Einsicht gezeigt und die Schuld bei anderen gesucht. Das Gericht sah keine Anzeichen für ein Komplott gegen ihn. Vielmehr habe der Richter, der wegen seiner Scheidung in einer schwierigen Situation gewesen war, mehr Zeit für Familie und Hobby haben wollen - und nebenbei Vorträge und Vorlesungen über das Betreuungsrecht gehalten.

Der Verteidiger kündigte an, das Urteil anzufechten. Unterdessen sehen Richterkollegen auch die Justizverwaltung in der Pflicht: Thomas Schulte-Kellinghaus, Mitglied im Bundesvorstand der Neuen Richtervereinigung, erklärte, die Atmosphäre an den Amtsgerichten sei so, dass die Qualität nicht zähle - nur die Zahl der erledigten Fälle.

14.11.2008

http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/1874149

 

 


 

 

Der Mythos von der hohen Moral der Richter

Wolfang Neskovic

Der Tiefschlaf richterlicher Selbstzufriedenheit wird selten gestört. Kritik von Prozessparteien, Anwälten und Politikern prallt an einem Wall gutorganisierter und funktionierender Selbstimmunisierungsmechanismen ab. Die Kritik von Anwälten und Prozessparteien wird regelmäBig als einseitig zuruckgewiesen, die von Journalisten mangels Fachkompetenz nicht ernst genommen und die von Politikern als Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit denunziert. Es ist ein Phänomen unserer Mediendemokratie, dass ein Berufsstand, der über eine so zentrale politische, soziale und wirtschaftliche Macht verfügt wie die Richterschafi, sich so erfolgreich dem Prüfstand öffentlicher Kritik entzogen hat. Dabei hat die Richterschaft allen Anlass, in eine kritische Auseinandersetzung mit sich selbst einzutreten.

Die Rechtsprechung ist schon seit langem konkursreif. Sie ist teuer, nicht kalkulierbar und zeitraubend. Nur noch 30 Prozent der Bevölkerung haben volles Vertrauen zur Justiz. Der Lotteriecharakter der Rechtsprechung, das autoritäre Gehabe, die unverständliche Sprache und die Arroganz vieler Richter(innen) im Umgang mit dem rechtsuchenden Bürger schaffen Misstrauen und Ablehnung. Darüber hinaus signalisieren viele Gerichtsentscheidungen eine Geisteshaltung, die tendenziell frauen-, gewerkschafts- und ausländerfeindlich ist. Das Sozialstaatsprinzip ist in der Rechtsprechung zur kleinen Schwester des großen Bruders Rechtsstaat verkümmert. Die Verwaltungsgerichte, insbesondere die Oberverwaltungsgerichte, entscheiden im Zweifel für den Staat und gegen den Bürger. Manche Oberverwaltungsgerichte (z. B. das Oberverwaltungsgericht Lüneburg) haben sich zu einer Wagenburg der Obrigkeit entwickelt. Für viele Strafrichter ist der Strafprozess noch immer ein „Gesundbrunnen" und das Eigentum wichtiger als Gesundheit und Leben. Das Fortbildungsinteresse von Richtern ist schwach ausgeprägt und nur dann zu fördern, wenn ein „anständiges" Beiprogramm die Mühseligkeit der Fortbildung versüBt. Insbesondere sozialwissenschaftlichen, psychologischen und kriminologischen Erkenntnissen begegnet die Richterschaft in ihrer überwiegenden Mehrheit mit erschreckender Ignoranz und greift statt dessen lieber auf Alltagsweisheiten und Stammtischwahrheiten zurück. Das berufliche Fortkommen hat einen hohen Stellenwert und prägt im Wege des voraus-eilenden Gehorsams die Inhalte der Entscheidungspraxis. Eine hohe Erledigungsziffer gilt im Kollegenkreis immer noch als Nachweis besonderer Befähigung.

Eine Kritik in einer Fachzeitschrift wird allemal ernster genommen als die von Prozessparteien. Die Aufhebung eines Urteils durch die höhere Instanz wird als tadelnde „Schuluote" missverstanden. Nicht wenige Richterkollegen beurteilen den Wert ihrer richterlichen Arbeit nach der Anzahl ihrer Aufhebungen. Politisch steht der Feind - insbesondere bei den Obergerichten - weiterhin links und nicht rechts. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die erstinstanzlichen Zuständigkeiten in politischen Strafsachen und bei Großprojekten bei den Oberlandesgerichten beziehungsweise Oberverwaltungsgerichten angesiedelt worden sind. Bei den Obergerichten hat Bismarck bis heute gesiegt. Die Sonderrichter im Dritten Reich sind mit demselben Qualifikationsbegriff groß geworden wie die Richter von heute. In der Personalförderung wird immer noch der Rechtstechnokrat und Paragraphenreiter bevorzugt, der mit einem konservativen Staatsverständnis ausgestattet, wendig und anpassungsfähig, mit schwach ausgeprägtem Rückgrat an seiner Karriere bastelt. Der Richtertyp hingegen, der menschlich empfimdsam und unabhängig sein Amt wahrnimmt, der sich sozial engagiert und sich dazu bekennt, hat in der Personalpolitik wenig Chancen.

Dies muss geändert werden. Neue Richterinnen und Richter braucht das Land. Es wird Zeit, daß hierüber eine öffentliche Diskussion einsetzt.

 

Wolfgang-Dragi Neskovic (Jg. 1948) - Vorsitzender Richter am Landgericht Lübeck

Erschienen in: Zeitschrift für anwaltliche Praxis (ZAP), Nr. 14, vom 25. 7. 1990, S. 625

Neskovic war vom 05.06.1990 bis zu seiner Ernennung zum Richter am Bundesgerichtshof, Richter am Landgericht Lübeck.

 

 


 

 

 

Ulrich Vultejus zum Achtzigsten

Justizreform erschöpft sich nicht in der Veränderung von Strukturen und Gesetzen. Sie ist ein gesellschaftlicher Prozess, der vor dem Hintergrund einer kritischen öffentlichen Diskussion in dem Wandel der Mentalität der Juristen selbst wurzelt. Diese schlichte Erkenntnis brauchte lange Zeit, um Anhänger unter den Richtern zu finden. Einer, der viel dazu beigetragen hat, ist Ulrich Vultejus. Ihn, der am 12. Juli 2007 seinen achtzigsten Geburtstag feiert, muss man auf die Frage, welche Juristen in die zur Halbzeit der Bundesrepublik noch eintönig-mausgraue (politisch: schwarze) Justizszene Farbe gebracht haben, mit an erster Stelle nennen.

Dem in einem liberalen und NS-kritischen Elternhaus aufgewachsenen Siebzehnjährigen trug sein lebenslanger Nonkonformismus schon 1943 ein schließlich eingestelltes Strafverfahren ein. Unter Berufung auf ein angeblich eingereichtes, aber tatsächlich nicht vorhandenes ärztliches Attest war er zwölf Monate lang dem Dienst in der Hitlerjugend ferngeblieben. Später wusste er sich mit Hilfe eines verständnisvollen Krankenhausarztes der Einberufung zur Wehrmacht zu entziehen.

Über das mit einem glänzenden Examen abgeschlossene Jurastudium und die Referendarzeit führte der berufliche Lebensweg Vultejus zunächst als Richter an das idyllische Amtsgericht Bad Harzburg, bis er wegen dessen Auflösung zum Amtsgericht Hildesheim als dessen stellvertretender Direktor kam. Mit seiner Forderung nach gesellschaftlichem Engagement gerade auch der Juristen machte er Ernst: durch seine Mitarbeit im Bundesvorstand der in der Gewerkschaft ÖTV organisierten Richter (auch als niedersächsischer Landesvorsitzender) und in dessen Strafrechtsausschuss, als Vorsitzender der Humanistischen Union, der bis heute wichtigen und unverzichtbaren Bürgerrechtsvereinigung, bei Landtagsanhörungen und mit vielen anderen Initiativen. An mehreren Fachhochschulen war er in der Lehre tätig. Als Richter verkörperte er das Gegenbild des reinen Rechtstechnokraten, mit verständlich gemachten Entscheidungen, die wegen seiner einfühlsamen und umgänglichen Verhandlungsführung selbst von den verurteilten Angeklagten meist akzeptiert wurden. Durch die Zivilcourage, mit der er sich dem nach oben orientierenden Justizapparat, auch dem von der Kollegenschaft ausgehenden Anpassungsdruck stets widersetzte, gab er vorbildhaft der jüngeren Richtergeneration seiner Zeit wichtige Impulse.

Dass ein so vielseitiger, seinen Beruf kritisch reflektierender Jurist nicht für hohe Beförderungsämter geschaffen war – dort muss man vor allem die Fähigkeit zur trockenen Scheingelehrsamkeit und natürlich zum Opportunismus unter Beweis stellen – liegt nahe. So blieb er bis zur Pensionierung Amtsrichter. Leiter einer großen Gerichtsbehörde, dort durch die Konzentration auf organisatorische Aufgaben den Menschen entfremdet, wollte er ohnehin nie sein. Der Zeit als Richter in Bad Harzburg hat er wohl etwas nachgetrauert. An einem kleinen Gericht ist der Richter dem Leben der Bürger am engsten verbunden.

In der öffentlichen Wahrnehmung stand weniger der Richter als der Justizkritiker Vultejus im Vordergrund. Auch da zeigte er Rückgrat. Es waren seinerzeit spektakuläre Fälle, die Vultejus in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht haben: Unter dem von der Justizverwaltung missbrauchten Stichwort „Mäßigungsgebot“ – danach habe ein Richter sich mit kritischen Äußerungen in der Öffentlichkeit zurückzuhalten, bis hin zur Kritikabstinenz gegenüber Vorgesetzten und Kollegen – versuchte das niedersächsische Justizministerium, vertreten durch folgsame Gerichtspräsidenten, hartnäckig immer wieder, Ulrich Vultejus einen Maulkorb umzuhängen. Durch Mitunterzeichnung einer Zeitungsanzeige war er im Jahre 1980 mit anderen Bürgern für die Aufrechterhaltung eines Arbeitsgerichtsurteils eingetreten, das in einem Berufsverbotsfall einem Lehramtsanwärter Recht gegeben hatte. Gegen dies Urteil hatte das niedersächsische Justizministerium nicht nur das mit linientreuen Richtern besetzte Landesarbeitsgerichte angerufen, sondern auch den jungen Arbeitsrichter, der das Urteil sorgfältig begründet hatte, schikaniert und schließlich zum Ausscheiden aus der Justiz gedrängt. Der an das Landesarbeitsgericht gerichtete Appell des Zeitungsaufrufs, es bei der verfassungsgemäßen Entscheidung des Arbeitsgerichts zu belassen, hatte die absurde Folge eines disziplinarischen Verweises mit dem Vorwurf, Vultejus habe durch Mitunterzeichnung der Zeitungsanzeige die hohen Herren des Landesarbeitsgerichts unter Druck gesetzt.

Zu einem ersten Disziplinarverfahren gegen Vultejus war es schon im Jahre 1976 gekommen. Damals hatte er mit seinen Schöffen über die Anklage gegen den leitenden Manager eines großen Unternehmens zu entscheiden. Dem Wirtschaftsboss war von der Staatsanwaltschaft zur Last gelegt, die Betriebsratwahl in seinem Unternehmen dadurch behindert zu haben, dass er die Hälfte der Belegschaft entließ. Als der Manager – obgleich ausdrücklich vorher gewarnt – der Hauptverhandlung provokatorisch fern blieb, behandelte Vultejus ihn wie jeden anderen Bürger: Er erließ auf Antrag der Staatsanwaltschaft Haftbefehl. Deshalb, aber auch weil Vultejus Vorsitzender der Fachgruppe in der Gewerkschaft ÖTV sei, lehnte der Verteidiger des Angeklagten Vultejus als Richter ab. Der dafür zuständige Direktor des Amtsgerichtes, seinerseits Mitglied des konservativen Richterbundes und auch der CDU, gab dem Ablehnungsantrag ohne jegliche Begründung statt. Das löste ein lebhaftes Echo in Presse und Rundfunk aus. Auch Vultejus, der sich von der wirtschaftsnahen Presse scharf angegriffen sah, wurde schließlich interviewt. Auf die Frage des Interviewers, ob der Amtsgerichtsdirektor den Ablehnungsbeschluss nicht hätte begründen müssen, anstatt sich einfach stillschweigend den Ablehnungsgründen des Verteidigers anzuschließen, entgegnete Vultejus, ja, er halte die Entscheidung für unfair, übrigens auch deshalb für gesetzwidrig, weil der Staatsanwaltschaft kein rechtliches Gehör gewährt worden sei. Vor allem empöre ihn die Ablehnung, weil sie unterstelle, dass gewerkschaftszugehörige Richter weniger objektiv als konservative urteilen würden. Auch wegen dieses Interviews wurde Vultejus disziplinarrechtlich verfolgt. Zwar wurde er in erster Instanz freigesprochen. Von den in die höhere Ebene eingebetteten Richtern der weiteren Instanzen wurde er aber schließlich verurteilt.

Befremdlich war auch die Einmischung des Präsidenten des Oberlandesgerichts Celle Harald Franzki. In einem langen Leserbrief in einer Tageszeitung warf Franzki Vultejus eine Verletzung seiner Amtspflichten vor. Mit diesem öffentlichen Angriff gegen einen Untergebenen hatte der Oberlandesgerichtspräsident gegen seine eigene Dienstpflicht, nämlich zur Fürsorge und guten Zusammenarbeit mit seinen Richtern, verstoßen. Um eine Erwähnung des Namens Franzki kommt man hier aber auch aus einem anderen Grunde nicht herum. Franzki hatte nämlich in eigener Person gezeigt, wie sehr man in der Frage, ob jemand befangen sei, nach zweierlei Maß urteilen kann: Als Vultejus sich einmal an einer Diskussion zur Ausklammerung der NS-Justiz in der Richterfortbildung beteiligen wollte, hatte Franzki dies zu verhindern versucht. Auch sonst hatte er sich immer wieder der rückhaltlosen Aufarbeitung der NS-Justiz widersetzt, hatte sich sogar selbst zu Vorträgen an der Deutschen Richterakademie in Trier mit apologetischer Tendenz zu diesem Thema in den Vordergrund gedrängt. War er dafür wirklich an erster Stelle berufen? Darüber, dass Franzki einen für zahlreiche Todesurteile verantwortlichen Reichsanwalt am Volksgerichtshof zum Vater hatte, habe ich bislang, zu Lebzeiten von Harald Franzki, geschwiegen. Jemand für die Verfehlungen von Familienangehörigen verantwortlich zu machen, wäre ja eine Art Sippenhaft. Ist ein Jurist mit einer solchen Familienvergangenheit aber wirklich unvoreingenommen, wenn er die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu behindern sucht? Neben Harald Franzki gab es in der bundesdeutschen Justizgeschichte allerdings zahlreiche weitere Beispiele dafür, dass arrivierte Söhne oder auch die als Schüler und Assistenten schwer belasteter NS-Juristen Aufgewachsenen sich an der Vergangenheitsverdrängung maßgeblich beteiligt haben.

Durch all diese Reglementierungsversuche und weitere Schikanen ließ Vultejus sich nicht davon abbringen, für richterliche Unabhängigkeit und Meinungsfreiheit zu kämpfen. Unverdrossen brachte er es bis vor den Bundesgerichtshof, dass jener Präsident des Oberlandesgerichts Celle den ihm unterstellten Strafrichtern „Empfehlungen“ gab, wie sie in den politisch motivierten Strafprozessen (damals ging es vor allem um die RAF-Prozesse) zu agieren hätten.

Neben dem schon vor ihm auf den Plan getretenen Theo Rasehorn und wenigen anderen war Ulrich Vultejus einer der wenigen, die einer in Diktion und Auftreten erstarrten und dem Mainstream angepassten Richterschaft zur Meinungspluralität verholfen haben. Das geschah auch mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen. Das Schreiben von fußnotengespickten und mit vielen Nachweisen angereicherten Abhandlungen hat er allerdings anderen überlassen. Stattdessen schrieb er gedankenreich eine originelle, glänzende und witzige Feder. Allein als Autor der Zeitschrift „ÖTV in der Rechtspflege“ war seine Kreativität unerschöpflich. Wer weiß, dass sich hinter den Autoren „Urs Tatze“ und „Wally Walfisch“ Ulrich Vultejus verbarg? Ein gelegentliches Pseudonym war wohl nötig, damit die Artikel von Vultejus nicht gelegentlich eine ganze Ausgabe füllten. Aber welch anderer Richter oder Beamte hätte sich sonst um wichtige Themen gekümmert? Wer, wenn nicht Vultejus, hätte sich beispielsweise des Mehr auf Abwehr als auf Einfühlung gerichteten Kampfbegriffes wie den des „Querulanten“ angenommen. In seiner Dankesrede („Der domestizierte Richter“) zur Verleihung des Fritz-Bauer-Preises 1981 warnte er vor einer „Justiz als eines auf Beförderung angelegten Betriebes, weil ein die materiellen Wünsche und den persönlichen Ehrgeiz einspannendes Beförderungssystem den Richter zu korrumpieren geeignet ist“. Seine in vielen Fachzeitschriften erschienen Beiträge galten unter anderem auch dem Kampf gegen den unveränderten § 218 StGB und die ständige Ausdehnung der Sicherheitsgesetze.

Die Bücher von Ulrich Vultejus sind noch immer lesenswert. In dem Buch „Kampfanzug unter der Robe. Kriegsgerichtsbarkeit des II. und III. Weltkrieges“ brachte er neben der ersten Darstellung der Lebensläufe von Wehrmachtsrichtern die heimlichen Vorbereitungen für den Aufbau einer neuen Kriegsgerichtsbarkeit ans Licht der Öffentlichkeit. Erst dadurch wurden Bundesjustizministerium und Bundesverteidigungsministerium zur Aufgabe dieser verfassungswidrigen Pläne gezwungen. Prompt folgte der nächste Prozess. Der ehemalige Wehrmachtsjurist und nun Marburger Professor Erich Schwinge verklagte Ulrich Vultejus auf Unterlassung. Vultejus hatte nämlich aufgedeckt, was Schwinge bis dahin bestritten hatte: ein Todesurteil gefällt zu haben – „grausamer als ein Heinrich Himmler“, Himmler hatte nämlich den Verurteilten begnadigt. Auf dem langen Instanzenweg unterlag Vultejus vor dem Landgericht Hannover und auch vor dem OLG Celle – anderes war in der damaligen niedersächsischen Justiz kaum zu erwarten! –, obsiegte dann aber vor dem Bundesgerichtshof, vor einem ausnahmsweise mit jüngeren, vergangenheitskritischen Richtern besetzten Zivilsenat Dass Schwinge weitaus mehr von ihm gefällte Todesurteile verschwiegen hatte, kam erst viele Jahre später ans Tageslicht. Interessant sind auch Vultejus’ Lebenserinnerungen („Nachrichten aus dem Inneren der Justiz“, Hildesheim 1998). Lernen können jüngere Juristen daraus nicht nur, was menschliches Verhalten eines Richters bedeutet, sondern auch, wie wichtig Selbstkritik an eigenem früheren richterlichen Verhalten ist. Die allermeisten unserer Richter sind zu einem solchen Eingeständnis von Fehlern oder Unterlassungen unfähig. Eine Fehlerkultur – in dem Sinn, dass man Fehler bekennen muss, um daraus zu lernen – wäre für die deutsche Justiz bitter nötig.

Heute, schon vor einigen Jahren nach Berlin umgezogen, lebt Ulrich Vultejus in Berlin. Auch wenn er sich, wie es einem in diesem Alter zusteht, mehr auf das Privatleben zurückgezogen hat und leisere Töne bevorzugt, zeigt er noch immer Schaffenskraft. Dies vor allem durch intensive Beobachtung der literarischen Szene, über die er – wie kann es bei ihm anders sein? – ständig schreibt, vor allem mit Rezensionen über Biographien.

Dem Freund und Mitstreiter Ulrich Vultejus zum achtzigsten Geburtstag herzlichen Glückwunsch, Dank für seine Leistungen und gute Wünsche für das nächste Jahrzehnt.

Wolfenbüttel, 12.07.2007

Helmut Kramer

 

http://kramerwf.de/Ulrich-Vultejus-zum-Achtzigsten.187.0.html

 

 


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