Umgang

Dauer, Häufigkeit und Alter des Kindes


 

 

 

 

Entsprechen deutsche Sorge- und Umgangsrechtsentscheidungen dem Zeitempfinden des Kindes?

 

Von Dr. Ilse E. Plattner, München

Es scheint, als berücksichtigen derzeitige Sorge- und Umgangsrechtsentscheidungen kaum das kindliche Zeitbewußtsein, und sie werden damit dem Wohl des Kindes sicher nicht in allen Fällen gerecht. So mag beispielsweise ein 14tägiger Umgangsrhythmus für ein 10jähriges Kind einen durchaus überschaubaren Zeitraum darstellen. Für ein 3jähriges Kind hingegen, das weint, wenn es sich vom abwesenden Elternteil trennen muß ist es weder ein Trost noch eine Hilfe, wenn man ihm sagt, der Vater oder die Mutter komme "in zwei Wochen" wieder. Denn es hat noch keine Vorstellung davon, was zwei Wochen bedeuten.

Zwar wird immer wieder gefordert, daß richterliche Entscheidungen dem kindlichen Zeitempfinden angemessen sowie rasch und endgültig getroffen werden sollen 1), um das Kind aus der Ungewißheit herauszuholen. Doch die Gerichtsentscheidungen dauern oft sehr lange 2) und Entscheidungsgrundlagen für die Regelung des Umgangsrechts mit Bezug auf das altersabhängige Zeitverständnis des Kindes fehlen.

In einschlägigen Arbeiten beruft man sich auf Goldstein, Freud & Solnit 3), die das kindliche Zeitbewußtsein - aus einer psychoanalytischen Auffassung heraus - eng in Zusammenhang mit psychologischen Bindungen und dem Bedürfnis des Kindes nach Kontinuität sehen. Die globalen Verweise auf Triebregungen und Gefühlsansprüche sind allerdings eine schmale Basis für richterliche Entscheidungen. Sie geben wenig Auskunft darüber, welche Merkmale des Zeitbewußtseins der Sachverständige beim Kind in einzelnen Altersstufen vorfindet und wie er diese in Gutachten zu Sorge- und Umgangsrechtsentscheidungen behandeln kann. Die Forderung nach der Berücksichtigung des kindlichen Zeitbewußtseins erscheint sehr abstrakt und in konkreten familienrechtlichen Entscheidungen wenig handhabbar.

Die psychoanalytische Position soll hier nicht diskutiert werden; problematisch ist in jedem Fall deren fehlender empirischer Nachweis. Es überrascht, daß andere theoretische Konzeptionen und psychologische Forschungsarbeiten bislang in der familienrechtlichen Literatur keine Beachtung fanden.

I. Psychologische Ergebnisse zum kindlichen Zeitbewußtsein 4) Da sind zunächst einmal die experimentellen Untersuchungen Piagets 5), die zeigen, daß sich das Zeitverständnis analog zur Intelligenzentwicklung phasenhaft ausbildet. Bis zum Alter von sieben Jahren ist Zeit lediglich als ein Aktionsschema vorhanden und an bestimmte Handlungsschemata gebunden. Begriffe wie "vorher" und "nachher" werden noch nicht miteinander verbunden, das Kind kann immer nur jeweils eine Dimension betrachten. Die Koordination von Ereignissen und Sequenzen wird noch nicht geleistet. Erst ab dem 7. / 8. Lebensjahr bildet das Kind einen "operativen Zeitbegriff" (Piaget) aus, mit dem Zeit unabhängig von der räumlichen Anschauung kognitiv verfügbar ist. Neuere Arbeiten ergaben, daß die Lernpotenz für den Aufbau des Zeitverständnisses schon in früheren Entwicklungsstadien vorhanden ist, als Piaget dies festgestellt hat 6).

Zu nennen sind auch die vielen experimentellen Studien von Fraisse, die zeigen, daß das Kleinkind zur Schätzung von Dauer unfähig ist: "Selbst wenn ein Kind die Uhr lesen kann, hat es überhaupt noch keine Vorstellung davon was eine Minute oder eine Stunde darstellt." 7) In Anknüpfung an die Ergebnisse Piagets und Fraisse' wurde eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt 8). Sie zeigen übereinstimmend, daß die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Schätzung von Zeit im Laufe der Entwicklung erworben und mit zunehmendem Alter erweitert und gefestigt wird. Erst ab dem siebten Lebensjahr sind nahezu alle Kinder (manche schon früher) zu einer Vorstellung von Dauer fähig und setzen dafür Zählstrategien ein. So zählen sie zum Beispiel die Nächte, die sie noch bis zu ihrem Geburtstag schlafen müssen 9).

Interessant ist auch, daß die Entwicklung des Zeitverständnisses bei körperbehinderten Kindern in anderen Phasen verläuft als bei nichtbehinderten 10). Bei 12jährigen Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen fand Martinius 11) ein generelles Fehlen der Unterscheidung von "regelmäßig" und "unregelmäßig" was eine zentrale Wahrnehmungsstörung bezüglich der Zeitfunktion bedeutet. Schließlich ist hervorzuheben, daß sich Kinder hauptsächlich an der Gegenwart orientieren; der Zukunftsbezug wird erst mit zunehmendem Alter wirksam. 

Oakden und Sturt 12) fanden schon 1922, daß das Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch den Umgang mit ihnen erlernt wird und persönliche Aktivitäten und Erfahrungen der Kinder dabei eine Rolle spielen. Strube und Weber 13) stellten fest, daß bereits 5jährige fähig sind, erinnerte Ereignisse zeitlich zu ordnen, was eine Leistung des autobiographischen Gedächtnisses bedeutet. Zeitbegriffe wie "gestern" und "morgen" treten bereits im 30. Monat wörtlich auf 14); die richtige Verwendung von Zeitbegriffen nimmt im Alter von vier bis acht Jahren mit ansteigendem Alter zu 15). Die verbale Verwendung von Zeitbegriffen sagt aber noch nichts über das tatsächlich vorhandene Verständnis und die subjektive Bedeutung dieser Zeitkategorien aus 16).

Problematisch an den psychologischen Studien ist, daß sie stark kognitiv ausgerichtet sind und emotionale Komponenten des Zeitbewußtseins vernachlässigen. Wie Kinder einzelner Altersstufen bestimmte Zeiträume im Alltag konkret erfahren, bezogen auf Stunden, Tage und Wochen, mit welchen gedanklichen Inhalten und mit welchen Gefühlen dies verbunden ist, darüber sind mir keine empirischen Erkenntnisse bekannt.

II. Forderungen an Sorge- und Umgangsrechtsentscheidungen

Auch wenn die psychologischen Erkenntnisse zum kindlichen Zeitbewußtsein begrenzt sind und die Forschung dazu weitergehen muß, so machen sie dennoch eines deutlich: Angesichts des unterschiedlichen Zeitverständnisses in einzelnen Entwicklungsphasen sind generelle Normen für die Festsetzung von zeitlichen Fristen für Umgangsdauer wie auch -rhythmus nicht sinnvoll. Vielmehr muß geklärt werden, welche situativen und kindspezifischen Merkmale vorliegen, anhand derer familienrechtliche Entscheidungen so getroffen werden können, daß sie dem jeweiligen Kind und dessen Zeitempfinden am ehesten entsprechen. Die Unterstützung durch einen Psychologen oder eine Psychologin erscheint dabei im Interesse kindgerechter Entscheidungen erforderlich, soweit der Richter oder die Richterin keine psychologische Schulung erworben hat.

Konkrete Forderungen an Sorge- und Umgangsrechtsentscheidungen ergeben sich

schon jetzt:

- Bereits zum Zeitpunkt der Einleitung von Sorgerechtsverfahren sollte eine rasche Entscheidung über die Umgangszeitenregelung getroffen werden.

- Generell ist zu berücksichtigen, daß Kinder unterschiedlichen Alters die Dauer von Besuchszeiten nicht in gleicher Weise erfahren und dies Konsequenzen für die Persönlichkeitsentwicklung nach sich zieht. So kann das Kleinkind, wenn die Abstände der Besuchszeiten mehrere Wochen umfassen, nur schwer die Erfahrung machen, daß es auch in der Abwesenheit des anderen Elternteils seiner Liebe sicher sein kann 17).

- Es müssen variable Formen elterlicher Besuchszeitenregelungen gefunden werden. Dies kann bedeuten, daß die zeitlichen Abstände der Besuchszeiten bei Kleinstkindern kürzer zu halten sind als bei Kindern im Kindergarten- und Schulalter. Selbst wenn die quantitative (Uhr-)Zeit des Zusammenseins die gleiche ist, so entspricht dies nicht dem qualitativen Zeiterlebnis. Bei einem Kleinkind bis zu drei oder vier Jahren ist ein häufigeres Zusammensein mit dem abwesenden Elternteil von jeweils zwei bis drei Stunden Dauer wichtiger als ein einmaliges Treffen in größeren Abständen bei einer Dauer von sechs Stunden.

- Hinzu kommt, daß Kinder vorwiegend im Heute und Jetzt leben. Ein Kind beschäftigt sich so lange mit etwas, wie es daran interessiert ist und ist dann ganz bei der Sache. Es denkt nicht an die Zeit. Deshalb kann es sein Spiel nicht termingerecht beenden und deshalb entspricht eine uhrzeiten-orientierte Vorgabe der Besuchszeiten nicht den kindlichen Erlebens- und Verhaltensweisen.

- Außerdem ist zu fragen, inwieweit das Kind überhaupt Vorstellungen vom künftigen Geschehen hat und welcher Art sie sind. Diffuse gedankliche Vorstellungen erschweren klare Antizipationen der Zukunft und produzieren dadurch Unsicherheit und Ängste.

Ein 2 1/2jähriges Kind hat möglicherweise keine Vorstellung davon, ob es den abwesenden Vater nach dem Besuch noch gibt. Wenn das Kind immer wieder aufs Neue der Ungewißheit ausgesetzt ist, ob es den Vater wiedersehen wird, weil es vergangene Erfahrungen noch nicht mit Zukunftsantizipationen in Verbindung bringen kann, wird dies die Entwicklung oder Aufrechterhaltung einer vertrauensvollen Beziehung beeinträchtigen.

- Wie der abwesende Elternteil beim Kind kognitiv und emotional repräsentiert ist, ist auch davon abhängig, wie häufig es ihn sieht, wie lange es mit ihm zusammen sein kann und ob es beispielsweise durch die Möglichkeit des Übernachtens erfahren kann, daß der Vater oder die Mutter am Morgen immer noch da ist. Denn erst damit kann der betreffende Elternteil zu einer konstanten und zuverlässigen Bezugsperson werden, die für die Ausbildung von Vertrauen notwendig ist.

- Auch kann man bei Kindern, die die Trennung von einem Elternteil in sehr frühem Alter erfahren haben und / oder durch lange Zeiten der Sorge- und Umgangsrechtsentscheidung keinen Kontakt mehr zu ihm hatten, nicht per se davon ausgehen, aß ihr autobiographisches Gedächtnis keine Erinnerungen an diesen Elternteil enthält.

Es ist zu berücksichtigen, in welchem Alter Kinder Erinnerungen an den abwesenden Elternteil bewußt formulieren können oder inwieweit das Erinnerungsvermögen z. B. mit vertrauten "Ritualen" gekoppelt ist - und deshalb für den Erwachsenen nicht immer erkennbar. Will man kindliche Zeitstrukturen bei der Gestaltung des Sorgerechtsregelungsverfahrens sowie des Umgangsrechtes für den nichtsorgeberechtigten Elternteil entsprechend den Bedürfnissen des Kindes berücksichtigen, so muß die Komplexität des Bewußtseins von Zeit in die Betrachtung miteingehen. Dazu müssen biographische und aktuelle Kontextmerkmale der Lebenswelt des Kindes ebenso berücksichtigt werden wie sein jeweiliger Entwicklungsstand. Weitere Forschungsarbeiten sind notwendig, um Erkenntnisse über interindividuelle Unterschiede des kindlichen Zeitbewußtseins in einzelnen Altersstufen zu gewinnen, die dann in Handlungsmaximen für Sorge- und Umgangsrechtsentscheidungen Anwendung finden können.

 

1) Vgl. M. Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff.

Frankfurt/M. 1983; R. Lempp, Gerichtliche Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Ein Lehrbuch für Ärzte, Psychologen und Juristen, Bern 1983.

2) Vgl. A. Brötel, Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens. Baden-Baden 1991; vgl. auch P. Koeppel, Rezension in: Neue Justiz 1992, 309.

3) J. Goldstein, A. Freud & A. J. Solnit, Jenseits des Kindeswohls. Frankfurt/M. 1979; dieselb., Diesseits des Kindeswohls. Frankfurt/M. 1982.

4) Vgl. ausführlich I. E. Plattner, Zeitbewußtsein und Lebensgeschichte. Heidelberg 1990.

5) J. Piaget, Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde. Zürich 1955.

6) Vgl. H.-J. Lerch, Der Zeitbegriff im Denken des Kindes. In: Pädagogische Anstöße, München 1984.

7) P. Fraisse, Psychologie der Zeit. München 1985, S. 238.

8) Vgl. zum Überblick W. J. Friedman (Hg.), The developmental psychology of time. New York 1982.

9) Vgl. F. Wilkening, I. Levin & S. Druyan, Children's counting strategies for time quantification and integration. Developmental Psychology 1987, 23 (6), S. 823-831.

10) Vgl. S. Schulze-Fils, Zeitbegriff bei Körperbehinderten. Berlin 1983.

11) J. Martinius, Complex visual reaction time measurements under irregular and regular preparatory interval conditions in children with developmental language problems. Acta Paedopsychiatrica, 50 (2-3) 1984, S. 111-118.

12) E. C. Oakden & M. Sturt, The development of the knowledge of time in children. British Journal of Psychology 1922, 12, S. 309-336.

13) G. Strube & A. Weber, Die Entwicklung der zeitlichen Einordnung und Datierung von Ereignissen. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 1980, 20 (3), S. 225-238.

14) Vgl. L. Ames, The development of the sense of time in young child. Journal of Genetic Psychology 1946, S. 97-125.

15) Vgl. K.-H. Kim, Zeitbegriff und Zeitperspektive bei Kindern im Alter von 4 bis 8 Jahren. Dissertation, Universität Tübingen 1972.

16) Vgl. K. Lovell, Die Entwicklung (natur-)wissenschaftlicher Begriffe, in: H. Bonn & Rohsmanith (Hg.), Studien zur Entwicklung des Denkens im Kindesalter, Darmstadt 1972, S. 241-386.

17) Vgl. auch P. Koeppel, Das deutsche Kindschaftsrecht kennt das Wort "Liebe" nicht!, FamRZ 1992, 31. Fundstelle: FamRZ 1993, S. 384

 

 

Quelle: Homepage Dr. Günter Tews

http://ourworld.compuserve.com/homepages/tews_guenter/plattner.htm

 


 

 

 

 

"Zum Wohle des Kindes: Je jünger, desto weniger Kontakt?"

Dipl. Psych. Ursula Ofuatey-Kodjoe, Freiburg i.Br.

 

Zentralblatt für Jugendrecht

Jugend und Familie - Jugendhilfe - Jugendgerichtshilfe

84. Jahrgang Heft 7/8/1997 Seiten 233 - 296

Dipl.-Psych. Ursula Ofuatey-Kodjoe, Freiburg i. Br.

 

»Zum Wohle des Kindes: Je jünger, desto weniger Kontakt?«

Zur Fragwürdigkeit von Faustregeln

In der Arbeit mit Scheidungsfamilien, in der Begegnung mit Sozialarbeitern, Rechtsanwälten und Familienrichtern und in deren Schriftsätzen stösst man auf eine Praxis der Umgangsregelung, die mit den Ergebnissen der Familienforschung der letzten 20 Jahre nicht zu vereinbaren ist. Es geht um den Umgang von Klein- und Vorschulkindern mit demjenigen Elternteil, mit dem sie nach der Trennung der Eltern nicht mehr in häuslicher Gemeinschaft leben. Da dies in über 90% die Väter betrifft, wird dieser Fall hier zugrunde gelegt. Gleiches gilt jedoch für den Umgang einer nicht betreuenden Mutter und ihrem Kind.

Die älteren Theorien über die soziale Entwicklung von Kleinkindern gingen von einer ausschliesslichen Ausrichtung auf die biologische Mutter als Nahrungsspenderin und als Bindungsobjekt aus. Dieser biologisch determinierten Beziehung wurden ins Mystische gehende Qualitäten zugesprochen. Erst die in der Forschung der 70er Jahre entdeckten Kompetenzen der Klein- und Kleinstkinder rückten auch die anderen primären Bezugspersonen ins Blickfeld. Nun wurden die väterliche Beziehung zum Kind und die reziproke Beziehung des Kindes zum Vater Gegenstand wissenschaflichen Interesses.

Die Ergebnisse der entwicklungspsychologischen Forschung fliessen jedoch bis heute nicht in dem Masse in Entscheidungs- und Beratungsprozesse im Rahmen von Familientrennung und Scheidung mit ein, wie es wünschenswert und zur Sicherung des »Kleinkinderwohles« auch angezeigt wäre. Die Regelungen der »Tender-Years-Doctrin«, nach der Kleinkinder bis zum Grundschulalter ohne wenn und aber der Mutter zugeordnet und der Vater für mehr oder weniger verzichtbar gehalten wurde, sind immer noch wirksam.

Wenn Kindeswohl definiert wird als die Schaffung von Lebensbedingungen, unter denen die Entwicklung des Kindes optimal gefördert werden kann, so setzt dies die Kenntnis der Entwicklungsaufgaben der verschiedenen Altersstufen voraus. Daher sollen zur Beantwortung der Frage nach der bestmöglichen Unterstützung und Förderung von Kleinkindern in groben Zügen die Entwicklungsschritte dieses Lebensalters aufgezeigt werden.

Fraglos ist die Mutter die wichtigste Person am Lebensanfang. Sie ist für das Kind Teil seiner selbst. Sie lernt (!), in aktiver Anpassung an seine Bedürfnisse, seine Signale zu erkennen und zu erwidern. Mutter und Kind sind aufeinander bezogen, durch einander definiert und psychisch aufs engste, »symbiotisch«, miteinander verbunden. Dieses Bild der vollkommenen Mutter-Kind-Harmonie trägt jedoch die beiderseitige Enttäuschung in sich: den Zorn und die Wut des Kindes, dass die »gute Mutter« auch eine »böse Mutter« ist, die ihm Trennungen zumutet, Versagungen auferlegt und Grenzen setzt. Früher als erwartet muss die Mutter die wachsenden Autonomiebestrebungen des Kindes erkennen und es in einem Bestreben unterstützen, das ihrem eigenen möglicherweise zuwiderläuft.

Nach. der symbiotischen Phase beginnt im 4. bis 5. Monat der Loslösungs- und Individuationsprozess (Mahler 1980), der mit dem vollendeten dritten Lebensjahr seinen Abschluss findet.

Etwa in der Mitte des ersten Lebensjahres reagiert das Kind. auf Mutter und Vater mit einer spezifischen Lächelreaktion: das Kind erkennt sie beide als unterschiedliche Personen, zu denen es eine Beziehung aufbaut. Nun wird der Vater zu einem Bindungsobjekt und zwar selbst bei minimaler Anwesenheit und wenig Beteiligung an der Pflege. Durch seine »Andersartigkeit« ist der Vater ein spezifisches Bindungsobjekt. Er unterscheidet sich mehr vom Kind als seine Mutter, die es als sich selbst ähnlich erlebt. Auch seine Interaktion unterscheidet sich von der mütterlichen Interaktion: sie ist körperbetonter, aktiver und »ruppiger«. Väter spielen eher Bewegungsspiele, die das Körpergefühl des Kindes fördern.

Forschungsergebnisse von Ainsworth et. al. (1978) hierzu ergaben: Die Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung läuft parallel zur Mutter-Kind-Beziehung. die Kinder entwickeln zu ihren Vätern und Müttern verschiedene Bindungsqualitäten Während der spielerischen Entdeckung und Abgrenzung seines Körpers nimmt das Kind Objekte und Teilobjekte wahr und setzt die Dinge und Personen seiner Umwelt zu Bildern zusammen, die es verinnerlicht. Es gelangt so zu einer »inneren Repräsentation« seiner selbst und seiner »Bindungsobjekte« Mutter und Vater. Mit zunehmenden motorischen Fähigkeiten zieht es immer weitere Kreise, es erforscht. und erobert seine Umwelt um mit etwa 18 Monaten ernüchtert festzustellen, dass es überall auf Grenzen stösst und sich wieder vermehrt seinen Betreuungspersonen zuwendet. In dieser Zeit der Wiederannäherung geht es vorrangig um die Lösung des Autonomie-Regressionskonfliktes, Hauptaufgabe des 2. und 3. Lebensjahres. Die Selbständigkeitsbestrebungen müssen mit'der Angst vor dem Getrenntsein in Einklang gebracht werden. Ebenso die Zuneigung zur Mutter und die Abneigung gegen sie wegen der unvermeidlichen Versagungen, Trennungen und Enttäuschungen.

Der Vater ist in diese Kämpfe des Kindes viel weniger verwickelt als die Mutter. Er lebt die Nähe zur Mutter ebenso vor, wie die Trennung von ihr. Er bietet dem Kind eigene Befriedigungsmuster und wird zu einem wichtigen Modell für nicht-symbiotische Liebesbeziehungen. Durch die Triangulierung, die Beziehung zu zwei Bindungsobjekten, die selbst eine Beziehung miteinander haben, kann sich das Kind ohne unerträgliche Verlustängste einmal mehr auf die Seite der Mutter und einmal mehr auf die Seite des Vaters schlagen. Bedeutsam ist die Qualität der elterlichen Beziehung. Die Zuneigung der Eltern zueinander und die Zuneigung beider zu ihrem Kind sind die Basis für sein Gefühl von Sicherheit, Schutz und Geborgenheit. Eine fehlende oder vorwiegend aggressive Beziehung der Eltern erschwert dem Kind die Loslösung von der Mutter, seine Angst vor Beziehungsverlust wird übermächtigt und kann die angestrebte Entwicklung erheblich verzögern oder fehlleiten mit allen bekannten Symptomen (Figdor 1991).

Als eine mit der Mutter verbundene und gleichzeitig von ihr unabhängige Person ist der Vater für das Kind ein wichtiges Autonomie- und Identifikationsmodell. Die Auflösung der Mutter-Kind-Dyade (Zweierbeziehung) gelingt durch die Erweiterung zur Mutter-Vater-Kind-Triade (Dreierbeziehung). Der Vater führt das Kind aus der zu eng werdenden Bindung an die Mutter hinaus und »in die Welt hinein«.

Wenn es sich bindungssicher fühlt, kann es mutig auf die Erkundung seiner Welt gehen. Nun nimmt es an zwei Erfahrungswelten teil: an der Weiblichen und der Männlichen. Dies fördert seine Effektive, kognitive und soziale Entwicklung (Lamb, 1977).

Der Vater, der weiterhin an der Entwicklung seines Kindes aktiv teilnimmt und der für seine Kinder verfügbar ist, ist Liebesobjekt, Vorbild und äusseres Modell der eigenen Möglichkeiten. Selbstsicherheit, Sicherheit im Umgang mit anderen, intellektuelle Entwicklung und Selbständigkeit werden gefördert. Die gelebte Beziehung zum Vater begünstigt bei jungen wie bei Mädchen die Entwicklung ihrer Geschlechtsrollenidentität und eine positive Einstellung zur eigenen Männlichkeit bzw. Weiblichkeit (Rotrnann, 1981). Auf dieser Basis kann Schwierigkeiten bei der Partnerwahl und in der Gestaltung späterer Liebesbeziehungen vorgebeugt werden, die häufig bei vaterlos aufgewachsenen Kleinkindern, Kindern und jugendlichen zu beobachten sind. Vom Kindergarten- bis zum Grundschulalter wird nun gefestigt, was in den ersten Lebensjahren erworben werden konnte: die Erfahrung der eigenen Individualität, der eigenen, unverwechselbaren Persönlichkeit, die der Aussenwelt mit Mut und Vertrauen begegnet - die Erfahrung von Rückschlägen inbegriffen.

Aus dem oben gesagten lässt sich die Problematik erahnen, nach der Trennung der Eltern einen »kleinkindgerechten« Umgang zu gestalten. Für die Bereitstellung optimaler Entwicklungsbedingungen brauchen Kinder von Beginn ihres Lebens an:

Die Möglichkeit, zu beiden Eltern eine Beziehung zu entwickeln, die zu einer Mutter-Kind- und zu einer Vater-Kind- Beziehung führt mit den naturgegeben Kriterien von lebenslanger Dauer und Unkündbarkeit. Die sichere Zuneigung beider Eltern. Eine Mutter, die das Kind nicht aus eigener Bedürftigkeit übermässig an sich bindet und einen Vater, der für das Kind von Anfang an emotional verfügbar ist.

Die wiederholte Versicherung, dass es keinen Elternteil verlieren wird. Die explizite Erlaubnis »es ist gut, wenn du zum Papa gehst« und die implizite Erlaubnis durch Mimik, Gestik und Stimmlage, den nicht betreuenden Elternteil lieben zu dürfen. Wenn das Kind nach der Rückkehr freudig und ohne innerlich zu »kürzen« von seinen schönen Erlebnissen mit dem anderen Elternteil erzählt, dann ist dies gelungen. Zweifel sind angebracht, wenn die Geschichten »gefallen«: »der Papa kocht nicht so gut wie Du« oder »der Freund von Mama ist blöd«. Hier hat sich das Kind mehr auf die Bedürfnisse und Wünsche seiner Eltern eingestellt als auf seine eigenen (Jopt 1992).

Die Erlaubnis, über den als Verlust erlebten Auszug traurig und wütend zu sein und diese Gefühle auch zeigen zu dürfen. Eine für das Kind erfahrbare positive Elternbeziehung: Das verlangt von beiden Eltern eine gegenseitige Haltung von Respekt und Höflichkeit vor dem anderen - auch nach der Trennung als Paar. Eine »positive Repräsentation« des anderen Elternteils von beiden Eltern ist notwendig, um das Bild des Kindes und damit seine eigene Identität nicht zu gefährden. Wer den ehemaligen Partner abwertet, wertet dessen Teil im eigenen Kind ab. Auch wenn sich die Eltern dessen nicht bewusst sind, die Kinder wissen und spüren es. Ihr Selbstwertgefühl erleidet empfindliche Einbussen. Die Ausgrenzung des Vaters gerade in der konfliktreichen Entwicklungszeit des 2. und 3. Lebensjahres kann sich auf die zukünftigen Beziehungen des Kindes fatal auswirken. Ausgrenzende Mehrelternfamilien (früher: Stieffamilien) zerbrechen nach den jüngsten Forschungserkenntnissen doppelt so häufig wie Mehrelternfamilien, die den biologischen Elternteil miteinbeziehen. Die Kinder zeigen signifikant mehr Verhaltensstörungen und als junge Erwachsene Probleme in der Lebensbewältigung (Figdor 1981).

Bei der konkreten Gestaltung des Umgangs ist ein kritischer Faktor der Übergang von einem Elternteil zum anderen. Das Kind muss die Mutter verlassen, um mit dem Vater zu gehen und es muss den Vater verlassen, um zur Mutter zurückgebracht zu werden. Jeder dieser, Abschiede kann mit Verlust- und Verlassenheitsängsten verbunden sein. Diese Ängste werden häufig zur »Angst vor dem Vater« uminterpretiert und zur Begründung für Umgangsbeschneidung oder -aussetzung herangezogen: eine Praxis, die die Verlassenheitsängste bestätigt und den Verlust nahezu »gesetzlich herbeiführt«.

Hier sind Einfühlungsvermögen und Phantasie der Eltern gefordert: Wenn der ankommende Vater eine Weile mit dem Kind in Anwesenheit der Mutter zusammen spielt, sich die Mutter dann langsam zurückzieht, sich quasi »uninteressant macht«, dann ist das Kind eher bereit, sich dem Vater neugierig zuzuwenden. Auch die Wohnung verständnisvoller Grosseltern oder anderer Bezugspersonen aus der Welt des Kindes kann sich für eine »weiche« Übergabe eignen. Ein Kind, das zur Abholung bereits vor die Tür gestellt wird, da die Präsenz des anderen Elternteils in der Wohnung für unzumutbar erklärt wird, lernt dagegen zweierlei: Die Tatsache, dass zwischen den Eltern etwas nicht stimmt, bedeutet in seiner ich-zentrierten Weltsicht dass mit ihm selbst etwas nicht stimmt und zweitens, dass es nicht gut ist, beide lieb zu haben und mit ihnen zusammen sein zu wollen.

Dem fehlenden kindlichen Zeitbegriff kann Rechnung getragen werden durch häufigere, wenn auch kürzere Begegnungen: z.B. festigen zwei Stunden Abendritual die Woche oder Spielplatz die innere Beziehung. Danach sind gemeinsame Wochenenden und Ferien kein Problem mehr. Fassbare Anhaltspunkte wie z.B. ein Abreisskalender, auf dem die Tage mit dem Papa einen roten Punkt haben o.ä. helfen zur zeitlichen Orientierung, Photos des abwesenden Elternteils im Kinderzimmer erhalten auch während dessen Abwesenheit das »innere Bild« und machen die Beziehungskontinuität sichtbar.

Probleme in der Kommunikation der Eltern können häufig dadurch entstehen, dass sich beide auf ihre (Rechts-) Positionen zurückgezogen haben und diese gegeneinander verteidigen. Aus der oben erläuterten Funktion des Vaters geht hervor, dass er eine wichtige Rolle spielt bei der Entlastung der Mutter-Kind-Beziehung. Es kann den Umgang der Eltern miteinander erleichtern, wenn der Vater auf die Bedürfnisse der Mutter eingeht und mit ihr zusammen heraus findet, was sie braucht, um eigene Freiräume zu bekommen.

Das Kindeswohl gerade kleiner Kinder zu wahren, ist ein anspruchsvolles Ziel. Es sind immer die Eltern, die dafür die Bedingungen schaffen und sie haben ein Anrecht darauf, umfassend beraten und unterstützt zu werden. Die alten Faustregeln müssen sehr kritisch hinterfragt werden, viele halten den neuen Erkenntnissen nicht mehr stand: Je jünger ein Kind ist, desto häufiger sollte es Kontakt haben zu dem Elternteil, mit dem es nicht mehr zusammenlebt. Das ergibt sich aus den Bedürfnissen dieser Entwicklungsstufe. Bis zum Schulalter sollte es ca. ein Drittel der Jahreszeit mit diesem Elternteil verbringen. Diese Zeit wird als Voraussetzung dafür betrachtet, dass eine Eltern-Kind-Beziehung wirklich gelebt werden und sich weiterentwickeln kann.

Literatur:

Ainsworth M.D.S. et al (1978). Patterns of attachment. Hillsdale, N.Y.

Erlbaum.

Figdor, Helmut (1991). Kinder aus geschiedenen Ehen: Zwischen Trauma und

Hoffnung, Matthias-Grunewald-Verl., Mainz

Lamb, M. (1986). The Father's Role. N.Y. John Wiley & Sons.

Mahler, Margret S. et al (1980). Die psychische Geburt des Menschen,

Fischer Verlag Ffm.

Mahler, Margret S. (1979). Studien über die ersten drei Lebensjahre,

Klett-Cotta, Stuttg.

Rotmann, M. (1981). Der Vater der frühen Kindheit - ein strukturbildendes drittes Objekt. In: Bittner, G. (Hrsb.): Selbstwerden des Kindes. Ein neues tiefenpsychologisches Konzept. Fellbach (Bonz).

Empfohlene Literatur:

Fthenakis, Wassilos E. et al (1982). Ehescheidung, Konsequenzen für Eltern und Kinder, München-Wien-Baltimore (U & S).

Jopt, Uwe-Jörg (1992). Im Namen des Kindes: Plädoyer für die Abschaffung des alleinigen Sorgerechts. Hamburg: Rasch und Röhrig.

 

 

Anmerkung Väternotruf: Ein empfehlenswerter Aufsatz. 

Wir meinen allerdings, dass der Vater schon während der Schwangerschaft und unmittelbar nach der Geburt in Beziehung zum Kind tritt und nicht erst: "Etwa in der Mitte des ersten Lebensjahres reagiert das Kind. auf Mutter und Vater mit einer spezifischen Lächelreaktion: das Kind erkennt sie beide als unterschiedliche Personen, zu denen es eine Beziehung aufbaut. Nun wird der Vater zu einem Bindungsobjekt ..."

So wünschenswert, wie es im allgemeinen ist, das dass Kind und der getrennt lebende Elternteil häufigen Kontakt haben, so schwierig ist es im Einzelfall dies zu realisieren, wenn die Spannungen zwischen den Eltern erheblich sind und bei jedem Treffen das Kind in diesem Spannungsfeld steht. Hier muss eine Abwägung zwischen beiden Faktoren erfolgen um das in der konkreten Situation  für das Kind Bestmögliche zu ermitteln.

 

 


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