Bauernopfer
SCHWERIN
"Eklatante Mängel und Widersprüche"
29. Dezember 2007 | von Mathias Gröckel
Hermann Junghans: Sind seine Tage als Dezernent gezählt?
Die Verwaltung veröffentlichte gestern einen ersten Zwischenbericht zum Fall der vor sechs Wochen verhungerten fünfjährigen Lea-Sophie. Eine Entlastung des Jugendamtes und des Sozialdezernenten sehen Kommunalpolitiker darin nicht. "Der Bericht offenbart eklatante Mängel der Verwaltungsarbeit, nachträgliche Verharmlosungsversuche und Widersprüche", so die Grünen. Hat dies auch die Stadtspitze erkannt? Offenbar steht die Abberufung von Junghans kurz bevor.
SCHWERIN - Der gestern von der Verwaltung vorgelegte vorläufige Zwischenbericht zum Fall Lea-Sophie sei unvollständig, "da drei der mit dem Fall betrauten Mitarbeiter bis heute nicht befragt wurden", sagt Silvio Horn von den Unabhängigen Bürgern.
Mit dem Zwischenbericht werde der Sachverhalt wesentlich so wiedergegeben, wie er von einigen Mitgliedern des Sonderausschusses bereits skizziert worden sei. Horn: "Damit gesteht die Verwaltung nunmehr ein, dass es bereits im November 2006 zwei Vorladungen an die Familie gegeben hat. Die Darstellung von Sozialdezernent Junghans für die Medien, die Stadtvertretung und zuletzt am 20. Dezember im Sonderausschuss war insoweit unvollständig und wissentlich falsch."
Noch nach dem Tod die Akte verändert
Bereits jetzt lägen mehrere Anzeichen dafür vor, dass unter Verstoß gegen interne Arbeitsanweisungen vom Jugendamt die Akten leichtfertig geschlossen wurden, so Silvio Horn. " Es erfolgten schon 2006 offenbar weder die bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung vorgeschriebenen Hausbesuche, noch wurden Vorgesetzte schriftlich informiert." Erschwerend komme hinzu, dass Grundlagen einer ordnungsgemäßen Sachbearbeitung im Jugendamt anscheinend nicht beherrscht würden. Horn: "Vielmehr sind desaströse Verhältnisse in der Aktenführung vorzufinden. Vielfach sind nur handschriftliche Notizen vorhanden, Sachverhaltsvermerke wurden in zwei Fällen nachträglich - erst nach dem Tod des Mädchens - angefertigt."
Erste Hinweise auf Gefährdung schon 2004
Der Zwischenbericht der Verwaltung offenbart laut Dr. Edmund Haferbeck von den Bündnisgrünen "eklatante Mängel der ordinären Verwaltungsarbeit, nachträgliche Verharmlosungsversuche und Widersprüchlichkeiten". Zum Fall Lea-Sophie liege keine eigene Sachakte vor. Vielmehr seien wesentliche Feststellungen "aus der Erinnerung heraus" nachträglich rekonstruiert worden, bestätigt auch Haferbeck. "Und dies bei einem Fall eindeutiger Gefährdungshinweise nicht erst seit 2007 oder, wie ebenfalls erst zögerlich von der Verwaltung eingestanden, seit 2006, sondern bereits seit 2004."
Im vergangenen Jahr hätte das Jugendamt selbst vermerkt, dass Lea-Sophie mehrfach nicht zu Untersuchungen beim Kinderarzt erschienen sei, das Kind keine Kita besuche, die Entwicklung des Mädchens "gestört" sei, Lea-Sophie sehr mager sei und "Angst/Respekt" vor dem Vater habe. Haferbeck: "Wenn nach den Auffälligkeiten bereits 2004 und den wiederholten Kontakten Ende 2006 keine Hinweise auf Kindeswohlgefährdung vorgelegen haben, worauf die Verwaltung immer noch beharrt, dann weiß ich nicht mehr, was noch vorliegen muss, um zu handeln."
"Lückenhaft", so bezeichnet Daniel Meslien den bislang von der Verwaltung präsentierten chronologischen Ablauf zum Fall Lea-Sophie. "Aufgrund der am 2. November 2006 eingegangenen Meldung beim Jugendamt, dass man sich um Lea-Sophie sorge, hat das Amt die Eltern zweimal schriftlich eingeladen", so Meslien. "Dass die Eltern nicht erschienen sind, ist ohne Folgen geblieben. Dies ist nicht akzeptabel", so Meslien.
Im Jugendamt sei sehr wohl bekannt gewesen, dass Lea-Sophies Wohl gefährdet gewesen sein könnte. "Aus den Einladungen des Amtes geht hervor, das man sich auch dort Sorgen gemacht hat", sagt der SPD-Stadtvertreter. "Auffällig ist, dass niemals die Mitarbeiter selbst eine Kindeswohlgefährdung gesehen haben. Stattdessen ist ersichtlich, dass immer nur Hilferufende dazu befragt wurden."
Das Protokoll zum Anruf aus der Nachbarschaft im November dieses Jahres beweise, dass es dem Anrufer nicht nur um den Bruder von Lea-Sophie, sondern auch um das Mädchen selbst gegangen sei. "Bisher hat die Verwaltung dargelegt, es wäre eigentlich nur um den Jungen gegangen", sagt Meslien.
Die vielen noch offenen Fragen beschäftigen offenbar auch die Stadtspitze. Nach SVZ-Informationen prüft OB Norbert Claussen, der wegen seiner Äußerungen zum Fall selbst in der Kritik steht und mit seinem Sozialdezernenten bislang den Schulterschluss geübt hatte, die Folgen einer möglichen Abberufung von Junghans. Die Idee: Nur zwei statt bislang drei Dezernenten führen die Ämter.
Fall Lea-Sophie: Schweriner Sozialdezernent muss Jugendamt abgeben
10. Januar 2008 | 18:18 Uhr
Schwerin - Sieben Wochen nach dem Hungertod der fünfjährigen Lea-Sophie gibt es nun erste personelle Konsequenzen in den Behörden. Der Schweriner Sozialdezernent Hermann Junghans (CDU) muss das Jugendamt aus seinem Verantwortungsbereich abgeben. Auch die Leitung des Jugendamtes wurde ausgetauscht.
Damit solle das Vertrauen in das in die Kritik geratene Amt wiederhergestellt werden, teilte die Stadtverwaltung am Donnerstag mit. Mitarbeiter des Amtes sollen Hinweisen auf eine Vernachlässigung des später verhungerten Mädchens nicht genügend nachgegangen sein. Junghans hatte jedoch wiederholt Fehler in der Arbeit des Jugendamtes bestritten. Das Amt kommt nun in den Geschäftsbereich des Dezernenten für Bauen, Ordnung und Umwelt, Wolfram Friedersdorff (Linke).
Nach Recherchen unserer Zeitung hat das Jugendamt gegen eigene Vorschriften verstoßen. Protokollnotizen mit Hinweisen auf eine Gefährdung des Kindes seien nicht in eine Akte aufgenommen worden. Nach Gesprächen mit Großeltern und Eltern hätten drei Mitarbeiter Monate vor dem Tod des Mädchens unabhängig voneinander notiert: Lea-Sophie habe „Angst“, die Familie „igelt sich ein“, die „sprachliche Entwicklung“ des Kindes sei „verzögert“, es sei nicht zu den ärztlichen U-Untersuchungen gebracht worden und „sehr mager“.
Die Mitarbeiter hätten ihre Erkenntnisse nicht nach der geltenden Dienstanweisung aufgearbeitet..
Die Gesprächsnotizen seien „nicht als gewichtige Anhaltspunkte“ eingestuft worden, zitierte die Zeitung den Sozialdezernenten Hermann Junghans (CDU).
Die Stadtverwaltung kündigte einen Abschlussbericht zum Fall Lea- Sophie für den 31. Januar an. Der Bericht soll von externen Sachverständigen bewertet werden. Weitere Entscheidungen würden dann auf dieser Grundlage getroffen, hieß es.