Euthanasie


 

 

 

 

 

Lothar Kreyssig

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Lothar Kreyssig (* 30. Oktober 1898 in Flöha, Sachsen; † 5. Juli 1986 in Bergisch Gladbach) war Richter und Gründer der Aktion Sühnezeichen und der Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt.

Kreyssig wurde als Sohn eines Kaufmanns und Getreidegroßhändlers geboren. Nach der Grundschule besuchte er ein Gymnasium in Chemnitz. Er legte das Notabitur ab und meldete sich 1916, während des Ersten Weltkrieges freiwillig zum Dienst in der deutschen Armee. Zwei Jahre im Kriegsdienst führten ihn nach Frankreich, ins Baltikum und nach Serbien. Nach Kriegsende studierte er zwischen 1919 und 1922 Rechtswissenschaft in Leipzig. 1923 wurde Kreyssig promoviert und nahm ab 1926 eine Tätigkeit am Landgericht Chemnitz auf. Ab 1928 war er dort als Richter tätig.

Zeit des Nationalsozialismus [Bearbeiten]

Vor der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten hatte Kreyssig die NSDAP gewählt. Nach der „Machtergreifung“ verhielt er sich anfangs systemkonform und trat der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt bei.[1] 1934 wurde er auch Mitglied im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) und im Reichsbund der Deutschen Beamten.[1] Mit Verweis auf seine richterliche Unabhängigkeit weigerte er sich jedoch bereits 1933, der NSDAP beizutreten. Kreyssig war evangelischer Christ und trat 1934 der Bekennenden Kirche bei. 1935 wurde er zum Präses der Synode der Bekennenden Kirche in Sachsen gewählt.

Beruflich konnte er weiterhin als Richter arbeiten. 1937 erfolgte seine Versetzung als Vormundschaftsrichter nach Brandenburg an der Havel. In dem in der Nähe gelegenen Ort Hohenferchesar erwarb er einen Gutshof, auf dem er biologisch-dynamische Landwirtschaft betrieb. Gegen Kreyssig bestanden wiederholt folgenlose Ermittlungsverfahren in Zusammenhang mit seinen kirchlichen Aktivitäten.

Als einziger deutscher Richter prangerte er die Euthanasiemorde der Nationalsozialisten an. Als Vormundschaftsrichter hatte er bemerkt, dass sich Nachrichten über den Tod seiner behinderten Mündel häuften. In einem Schreiben vom 8. Juli 1940 meldete er seinen Verdacht, dass die Kranken massenhaft ermordet würden, dem Reichsjustizminister Franz Gürtner, wandte sich aber auch gegen die Entrechtung der Häftlinge in den Konzentrationslagern:[2]

„Recht ist, was dem Volke nützt. Im Namen dieser furchtbaren, von allen Hütern des Rechtes in Deutschland noch immer unwidersprochenen Lehre sind ganze Gebiete des Gemeinschaftslebens vom Rechte ausgenommen, vollkommen z. B. die Konzentrationslager, vollkommen nun auch die Heil- und Pflegeanstalten.“

Daraufhin wurde ihm bedeutet, dass die Euthanasie-Aktion von Hitler selbst veranlasst worden sei und in Verantwortung der Kanzlei des Führers ausgeführt werde. Daraufhin erstattete Kreyssig gegen Reichsleiter Philipp Bouhler Anzeige wegen Mordes. Den Anstalten, in denen Mündel von ihm untergebracht waren, untersagte er, diese ohne seine Zustimmung zu verlegen. Am 13. November 1940 wurde Kreyssig vom Reichsjustizminister vorgeladen. Gürtner legte ihm das Handschreiben Hitlers vor, mit dem dieser die Mordaktion ausgelöst hatte, und das deren alleinige Rechtsgrundlage darstelle. Mit den Worten „Ein Führerwort schafft kein Recht“, machte Kreyssig deutlich, dass er dieses nicht anerkenne. Der Justizminister stellte fest, dass er dann nicht länger Richter sein könne. Im Dezember 1940 wurde Kreyssig zwangsbeurlaubt.[1] Versuche der Gestapo, ihn ins Konzentrationslager zu bringen, scheiterten. Zwei Jahre später, im März 1942, wurde Kreyssig durch Erlass Hitlers in den Ruhestand versetzt.

Kreyssig widmete sich dann verstärkt der ökologischen Landwirtschaft und der Arbeit in der Kirche. Auf seinem Hof versteckte er bis zum Kriegsende zwei jüdische Frauen.

Nach 1945 [Bearbeiten]

Nach dem Ende des Nationalsozialismus erfolgte zwar eine Würdigung als Widerstandskämpfer. Als vermeintlicher Junker verlor er jedoch Teile seines Grundbesitzes.

Wegen der nicht hinreichenden Rechtsstaatlichkeit der in der Sowjetischen Besatzungszone arbeitenden Justiz entschied sich Kreyssig gegen die Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeit. Stattdessen folgte er einem Angebot des Bischofs Otto Dibelius und wurde 1945 Konsistorialpräsident der Kirchenprovinz Sachsen in Magdeburg. 1947 wurde er Präses der Synode der Kirchenprovinz. Dieses Amt hatte er bis 1964 inne. 1952 leitete er kurzzeitig die Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. Noch im gleichen Jahr wurde er deren Präses. Dieses Amt hatte er bis 1970 inne.

Zwischen 1949 und 1961 war er Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Von 1949 bis 1958 war er auch Vizepräsident Ost des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Geistlich war er in der Evangelischen Michaelsbruderschaft beheimatet. Kreyssigs Ansichten waren bereits zu seiner Zeit umstritten. So trat er für eine Ökumene der Christen ein, die jedoch auch die jüdische Religion umfassen sollte. Kreyssig wandte sich gegen die deutsche Wiederbewaffnung und lehnte die Deutsche Teilung ab.

Auf Kreyssig gehen viele gesamtdeutsche kirchliche Einrichtungen und Ideen zurück. Er gründete die Evangelische Akademie der Kirchenprovinz Sachsen und regte die Telefonseelsorge an. Die von ihm gegründete Aktionsgemeinschaft für die Hungernden war eine Vorstufe der späteren Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt sowie der Organisation Brot für die Welt.

Sein bedeutendstes Werk war jedoch die Gründung der Aktion Sühnezeichen. 1958 rief Lothar Kreyssig zur Gründung der Aktion Sühnezeichen auf. Junge Deutsche sollten in die ehemaligen Feindländer und nach Israel gehen, um dort um Vergebung und Frieden zu bitten. Durch praktische Arbeit sollten sie ein Zeichen der Versöhnung setzen. Aus der anfangs unmöglich erscheinenden Idee wurde ein Dienst, der bis heute lebendig ist und viele Deutsche geprägt hat. Erste Einsatzgebiete waren Norwegen, die Niederlande, Großbritannien, Frankreich und Griechenland. Mit dem Bau der so genannten Berliner Mauer war Kreyssig von den internationalen Aktivitäten seiner Organisation abgeschnitten. Er gab daher 1962 die Leitung ab und widmete sich dem Aufbau der Aktion Sühnezeichen in der DDR. Einer der ersten Einsätze dieser Initiative war die Enttrümmerung der zerstörten Magdeburger Kirchengebäude Sankt Petri und Wallonerkirche.

Im Jahr 1971 übersiedelte Kreyssig mit seiner Frau nach Westberlin. Seit 1977 lebte er in einem Altersheim in Bergisch Gladbach, wo er 1986 verstarb.

Ehrungen [Bearbeiten]

Die Städte Flöha, Brandenburg, Magdeburg (siehe Magdeburger Straßenliste L), Karlsruhe und Bergisch Gladbach haben je eine Straße nach ihm benannt. In Flöha trägt eine Förderschule, in Lehnin ein Altenhilfezentrum seinen Namen. Der Lothar-Kreyssig-Friedenspreis wird von der gleichnamigen, in Magdeburg ansässigen Stiftung seit 1999 alle zwei Jahre verliehen.

An seinem 100. Geburtstag wurde im Brandenburgischen Oberlandesgericht in Brandenburg an der Havel eine Gedenktafel enthüllt. Vor dem dortigen Gebäude des früheren Amtsgerichts, heute Sitz der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg, Steinstraße 61, erinnern zwei Stelen an Lothar Kreyssig, im Gebäudeinneren eine Tafel mit einem von seinem Biographen Konrad Weiß verfassten Text. Die Enthüllung dieser Gedenktafel erfolgte am 11. Juli 2007 durch seine Söhne Jochen und Uwe Kreyssig. Beide waren auch anwesend, als am 5. Mai 2008 vor dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft eine von der Brandenburger Juristischen Gesellschaft gestiftete Gedenkstele erhüllt wurde, die an den 50. Jahrestag des Aufrufs von Lothar Kreyssig zur Gründung der Aktion Sühnezeichen erinnert. Am 22. Oktober 2006 fand im Bundesministerium der Justiz unter der Schirmherrschaft der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 20. Todestages von Lothar Kreyssig unter großer Anteilnahme mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste statt. Am 5. Juli 2008 wurde in Hohenferchesar, seinem Wohnort von 1937 bis 1972, ein Gedenkstein enthüllt.

Werke [Bearbeiten]

* Gerechtigkeit für David. Gottes Gericht und Gnade über dem Ahnen Jesu Christi. Nach dem 2. Buch Samuelis, 1949

* Aufruf zur Aktion Sühnezeichen 1958

Literatur [Bearbeiten]

* Konrad Weiß , Lothar Kreyssig. Prophet der Versöhnung Bleicher Verlag, Gerlingen 1998, ISBN 3-88350-659-1

* Susanne Willems, Lothar Kreyssig - Vom eigenen verantwortlichen Handeln, Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Berlin, 1995, ISBN 3-89246-032-9

* Susanne Willems, in: Verfolgung, Alltag, Widerstand - Brandenburg in der NS-Zeit, Verlag Volk & Welt Berlin, 1993, S. 383 - 410, ISBN 3-353-00991-4

* Unrecht beim Namen genannt. Gedenken an Lothar Kreyssig am 30. Oktober 1998, hrsg. vom Brandenburgischen Oberlandesgericht, Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden, 1998, ISBN 3-7890-5878-5

* Martin Kramer, Magdeburger Biographisches Lexikon, Scriptum Verlag Magdeburg, 2002, ISBN 3-933046-49-1

* Karl-Klaus Rabe, Umkehr in die Zukunft - Die Arbeit der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Lamuv Verlag, Göttingen, 1983, ISBN 3-921521-90-4

* Helmut Kramer, Lothar Kreyssig (1898 bis 1986), Richter und Christ im Widerstand in: Redaktion Kritische Justiz (Hg.): Streitbare Juristen. Baden-Baden: Nomos 1989, S. 342-354, ISBN 3-7890-1580-6

* Wolf Kahl, Lothar Kreyssig - Amtsrichter im Widerstand und Prophet der Versöhnung, Deutsche Richterzeitung 2008, S. 299 - 302

* Anke Silomon, Widerstand von Protestanten im NS und in der DDR, Aus Politik und Zeitgeschichte, 14/2009 30. März 2009, S. 33 - 38

Weblinks [Bearbeiten]

* Literatur von und über Lothar Kreyssig im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek (Datensatz zu Lothar Kreyssig • PICA-Datensatz • Apper-Personensuche)

* Konrad Weiß: Lothar Kreyssig. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 23, Nordhausen 2004, ISBN 3-88309-155-3, Sp. 872–884.

Einzelnachweise [Bearbeiten]

1. ↑ a b c Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Fischer Taschenbuch Verlag, Zweite aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2005, S. 340.

2. ↑ Zitat bei Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Fischer Taschenbuch 2005, S. 340.

 

http://de.wikipedia.org/wiki/Lothar_Kreyssig

 

 

 

Kommentar Väternotruf:

Wenn Lothar Kreyssig der einzige Vormundschaftsrichter war, der offen gegen die Ermordung behinderter Menschen aufgetreten ist, dann weiß man, wie viele andere Vormundschaftsrichter nichts getan und damit Beihilfe zum Mord geleistet haben. Angeklagt worden ist deswegen sicher kein einziger dieser Richter. Viele haben nach 1945 ungeniert und unbehelligt weiter in der westdeutschen Justiz arbeiten dürfen oder wurden mit üppigen Beamtenpensionen versorgt. Pfui Deibel Deutschland.. 

 

 

 


 

 

 

Süddeutsche Zeitung, vom 13.1.2003

Ein Opfer der Aktion Gnadentod: „Debilitis, Psychopathie“

Der Fall Paul Brune

Fast 60 Jahre musste ein Bochumer um den Nachweis kämpfen, dass er nicht der „Irre“ ist, zu dem ihn die Nazis stempelten

 

Von David Schraven

Bochum – Wenn Paul Brune redet, wippt sein Oberkörper. Vor und zurück, vor und zurück. In diesem Jahr wird Paul Brune 68 Jahre alt. Sein lockiges Haar ist grau geworden. In seiner Wohnung in Bochum hängt über einem schweren Ledersofa ein einfacher Kunstdruck: Picassos Flöte spielender Faun. Gegenüber liegt in einem übervollen Bücherregal der Roman „Ein Kind unserer Zeit“ von Ödön von Horvath. Paul Brune liest viel. Er wollte Lehrer werden, hat das zweite Staatsexamen abgelegt. Gearbeitet aber hat Paul Brune nicht einen einzigen Tag als Lehrer. Daran tragen viele Schuld, nur er selber nicht.

Am morgigen Dienstag will sich der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Wolfgang Schäfer, im Büro des Landtagspräsidenten im Namen seines Verbandes offiziell entschuldigen. Nicht nur dafür, dass Brune nie als Lehrer arbeiten konnte, sondern dafür, dass Brunes Leben so verlief, wie es verlaufen ist. „Wir werden alles dafür tun, das so etwas nicht mehr passiert“, sagt Schäfer.

Die Geschichte beginnt 1935 im Dorf Altengeseke. Brune wird als fünftes Kind der Familie eines Hilfsarbeiters geboren. Er ist nicht willkommen. Seine Mutter hatte sich mit einem Bauern aus der Nachbarschaft eingelassen, ein „Kuckucksei“ gelegt, wie man in Altengeseke sagte. Nach einem Selbstmordversuch kommt die Mutter in eine Anstalt, Brune wird in das Waisenhaus St. Josef nach Lippstadt gesteckt.

Im Heim fällt Brune auf. Die Kinder werden von den katholischen Nonnen gezwungen, „still und brav auf ihren Stühlchen zu sitzen“, erinnert er sich. Er aber steht auf, will singen, tanzen. Die Nonnen sehen darin eine „Teufelei“. In einer Akte geben die Nonnen zu Protokoll: „Brune ist aufgrund seiner abnormen Lebhaftigkeit und gemeingefährlichen Umtriebe für die Krabbelstation des Waisenhauses untragbar.“ Der Junge bekommt eine Akte. In ihr wird fortan sein Leben abgeheftet.

„Erblich minderwertig“

Im Frühjahr 1942 wird Paul in der Horst-Wessel-Schule in Lippstadt eingeschult. Der Schuldirektor, Josef Sasse, ist gleichzeitig sein Klassenlehrer – und ein ausgewiesener Anhänger der nationalsozialistischen Lehre von der „Reinhaltung der Rassen“. Paul Brune lernt gut und schnell. Doch Sasse, der die Akte kennt, stempelt das Kind als „erblich minderwertig“ ab. Am 13. Mai 1943 lässt er seinen Schüler in die „Irrenanstalt“ nach Dortmund- Aplerbeck einweisen. Die Diagnose, die vom Gesundheitsamt Lippstadt in wenigen Minuten auf Empfehlung Sasses gestellt wird, lautet auf „erblichen Schwachsinn“. Dabei stützen sich die Gutachter auf die Angaben der Nonnen. Auf der ersten Seite von Brunes Krankenakte notiert ein Arzt handschriftlich: „Debilititis, Psychopathie.“ Brune bekommt die Nummer 106,16.

Seit 1939 läuft in deutschen Kinder-Psychiatrien die „Aktion Gnadentod“, bei der die Nazis „erbkranke“ Kinder ermorden. Tausende Kinder in ganz Deutschland sterben. Die Aktion wird schrittweise ausgeweitet. Zuerst werden nur Säuglinge ermordet, später auch Dreijährige. Als Brune mit acht Jahren in die Dortmunder Anstalt kommt, wenden sich die Mörder den 16-Jährigen zu.

Brune erinnert sich gut an den Dortmunder Arzt Theodor Niebel und die Schwester Mimi Vogel. Der Arzt missbraucht die Kinder für Experimente, entnimmt jedem etwas Rückenmark. „Eines Morgens kamen sie zu mir. Die Schwester Vogel klemmte meinen Kopf zwischen ihre Oberschenkel, und der Arzt nahm die Operation vor.“ Danach ist Brune wochenlang an sein Bett gefesselt. Einen Stock tiefer befindet sich die Mordstation. „Sie haben vor allem die mongoloiden Kinder nach unten gebracht. Nachher hat sie niemand mehr gesehen.“

Aus der gesamten Provinz Westfalen werden die geistig oder schwer körperbehinderten Kinder in die „Kinderfachabteilung“ gebracht. Dort habe sie Doktor Niebel beobachtet, sagt der Leiter des Westfälischen Institutes für Regionalgeschichte, Bernd Walter. Danach habe Niebel entschieden: Leben oder Tod. Der Direktor der „Reichsschulstation“ für Euthanasie, Hans Heinze, schreibt 1942: „Die Hauptaufgabe der Kinderfachabteilungen besteht darin, 1. die Frage der Euthanasie im einzelnen Krankheitsfall zu klären, und 2. dafür zu sorgen, dass bei der späteren anatomischen Untersuchung der Gehirne die klinischen Befunde zur Verfügung stehen.“

Von rund 500 Kindern, die bis 1945 nach Aplerbeck gekommen seien, hätten bis zu 250 ähnliche Diagnosen wie Paul Brune gehabt, sagt Regionalforscher Walter. Angeblich litten sie an „Psychopathie“, einer Krankheit, die in der Wissenschaft nirgendwo beschrieben ist. Etwa 50 Kinder seien im Laufe der Zeit wieder entlassen, rund 250 Kinder jedoch ermordet worden. „Ballastexistenzen“ werden sie in der Naziliteratur genannt, auch „Minusvarianten“. Die überlebenden Kinder seien in andere Anstalten verlegt worden. Zu welcher Gruppe ein Kind gehört habe, sei vor allem von der „Willkür“ des Arztes Niebel abhängig gewesen, sagt Walter. Paul Brune kommt Ende 1943 in das St.-Johannes-Stift im sauerländischen Niedermarsberg. Er wird sieben Jahre bleiben. Hier wird er geschlagen, gedemütigt und gefoltert, ohne dass ein Arzt seinen Gesundheitszustand überprüft. Alles allein aufgrund der vernichtenden ersten Diagnose „Debilitis, Psychopathie“.

Januar 2003. Ein kaum beachteter Friedhof hinter dem St.-Johannes- Stift. Auf 317 Granitgrabsteinen stehen Namen von Kindern. Nach offiziellen Angaben wurden an diesem Ort über 400 Kinder verscharrt. „Zu meiner Zeit wurde hier fleißig gestorben“, sagt Paul Brune.

Die verantwortliche Stationsleiterin im St.-Johannes-Stift hieß Wilhelmine Englisch. Brunes Augen bekommen einen wässrigen Glanz, wenn er von der täglichen Folter im Stift spricht. „Englisch hat ihre Hand in mein Bauchfleisch gekrallt und das Fleisch verdreht, bis es blutete.“ Über Jahre wird Brune, wie er sagt, im Stift auch sexuell missbraucht. Zuerst vom Caritasdirektor des Bistums Paderborn, Rudolf D., in der Sakristei. Nach dem Krieg vom neuen Anstaltsleiter, Hubert M., in dessen Büro. „Der sagte immer zu mir: So ein schöner Junge, beweg dich doch mal“, erinnert sich Brune.

Schläge mit der Mistgabel

Wolfgang Schäfer, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, sagt heute: „Wir haben keine Erkenntnisse, ob Homosexuelle oder Päderasten in den Anstalten beschäftigt waren. Wir wissen aber, dass die Nazis für leitende Positionen in den so genannten Kinderfachabteilungen bevorzugt Menschen genommen haben, die erpressbar waren, zum Beispiel weil sie drogensüchtig waren.“ Der Landschaftsverband ist Rechtsnachfolger des ehemaligen Provinzialverbandes Westfalen, der für die psychiatrischen Einrichtungen verantwortlich war, durch die Brune ging.

Der Missbrauch sei nicht das Schlimmste gewesen, sagt Brune. „Wenn man mehr als ein Unglück erlebt, wird das Unglück relativ.“ Der ewige Hunger zum Beispiel. Paul Brune fährt über seine faltig gewordene Hand. „Bei Hungerödemen bilden sich Beulen auf der Hand und daraus platzt der Eiter.“

Die systematische Unterernährung war Teil der „Aktion Gnadentod“. Die Kinder sollten eines „natürlichen“ Todes sterben, um Angehörige nicht misstrauisch zu machen. Die Kinder wurden „verhungert“, sagt Regionalforscher Walter. Das habe sich auch nach Kriegsende kaum geändert. Care-Pakete kamen leer an, erinnert sich Brune. Nur wenn sich Besuch ankündigt, wird es für Stunden besser. Die Schwestern holen Spielsachen aus verschlossenen Schränken, ziehen den Kindern neue Kleidung an. „Manchmal schminkten sie auch die ausgemergelten Gesichter.“ Die Toten werden auf dem Friedhof verscharrt – bis in die fünfziger Jahre. Paul Brune schaut zwischen den Gräbern zu Boden, wird noch leiser. „Das war meine Kindheit.“

Im Juni 1950 wird Brune aus der Anstalt entlassen. Er ist 15 Jahre alt. Als „Familienzögling“ wird der angeblich „Geisteskranke“ auf einen Bauernhof in Erlinghausen geschickt. Der Bauer soll sich um Brune kümmern, dafür erhält er eine Pflegeprämie vom Staat. In breitem Platt sagt er zu dem Jugendlichen: „Ich habe dich blödes Schweinegesicht nicht zum Fressen und Scheißen aus der Anstalt geholt.“ Brune muss arbeiten, täglich bis zu 15 Stunden. Fünf Mark bekommt er dafür im Monat und regelmäßig Schläge mit der Mistgabel. Paul Brune ist 17 Jahre alt, als er das Rattengift E605 schluckt. Er überlebt und wird zurück in die Anstalt gebracht. Wieder Schläge, wieder Tritte, wieder Hunger.

Im Herbst 1953 wird Brune nach Münster verlegt. Der 18-Jährige soll „endgültig untergebracht“ werden, heißt es in der Krankenakte. In der Anstalt trifft er auf einen katholischen Priester, der sich um ihn kümmert und erkennt, dass Brune nicht geisteskrank ist. Der Priester schreibt Briefe an das Vormundschaftsgericht: „Brune wird wider Recht und Gesetz in einem Irrenhaus zwangsinterniert.“ Das Gericht reagiert. Brune wird aus der Anstalt geholt und in ein abgelegenes Dorf bei Lippstadt verlegt. Dort schuftet er wieder als „Familienzögling“ auf einem Bauernhof. Fünf Jahre lang.

Brune ist 24 Jahre alt. 17 Jahre voller Schmerzen hat er hinter sich, das weitere Leben scheint vorgezeichnet. Er ist entmündigt und abgestempelt als „Irrer“. Doch Brune hat die Worte des Pfarrers in den Ohren, er sei „normal“ und nicht „krank“. Brune meldet sich beim Vormundschaftsgericht, erinnert an die Eingaben des Priesters – und bekommt Recht. 1958 wird Paul Brune freigelassen. Er kann leidlich lesen und schreiben, hat keinen Schulabschluss. Paul Brune tippt auf eines der wenigen Fotos von ihm aus dieser Zeit. „So sah die Minusvariante aus, das Schweinegesicht, die Ballastexistenz.“ Ein hübscher junger Mann ist zu sehen, mit glatten Gesichtszügen, ein Lächeln auf den Lippen.

Anfang der Sechziger schlägt sich Brune als Hilfsarbeiter durch, wird mehrfach wegen geringer Delikte straffällig. Eine Freundin geht schließlich mit ihm zum Arbeitsamt, damit er einen Beruf lernt. Nach 17 Jahren Irrenanstalt macht er einen Eignungstest. Das Ergebnis: Paul Brune ist überdurchschnittlich begabt. Er besucht eine Abendschule.

Brune begreift die Verbrechen, die an ihm begangen wurden. 1966 stellt er eine Petition an den nordrhein-westfälischen Landtag. Eine gleichzeitig gestellte Anzeige an den Justizminister des Landes, die Generalstaatsanwaltschaft in Hamm, den Oberstaatsanwalt in Paderborn und das Amtsgericht Lippstadt gegen die Verantwortlichen der Anstalt Niedermarsberg wegen Mordes bleibt ohne Folgen. Nach nur drei Monaten stellt die Staatsanwaltschaft Arnsberg die Ermittlungen ein. Im gleichen Jahr geht der leitende Arzt der „Kinderfachabteilung“ in Dortmund-Aplerbeck, Doktor Niebel, in Ruhestand. Regionalforscher Walter bestätigt, dass kein einziger Verantwortlicher für das Sterben zur Rechenschaft gezogen wurde.

1976 fordert Brune in einer zweiten Petition an den Landtag Wiedergutmachung. Ihm wird acht Monate später beschieden: „Die Unterbringung des Petenten in den Jahren 1943 bis 1953 ist rechtmäßig erfolgt. Der Petitionsausschuss hat keinen Anlass, der Landesregierung Maßnahmen zu empfehlen.“ Zu dieser Zeit, glaubt Brune, müsse in seine Krankenakte der Vermerk eingetragen worden sein, er sei ein „unverbesserlicher Querulant“, der „Behörden belästigt“.

Brune macht seinen Weg. Nach dem Abitur beginnt er in Bochum ein Lehrer-Studium, 1978 legt er das erste Staatsexamen in Germanistik ab. Für die Ämter ist er immer noch der „Irre“ von Niedermarsberg. Die Schulbehörde verweigert Brune einen Referendariatsplatz. In einem Gutachten zur möglichen Einstellung des ehemaligen Anstaltsinsassen fragt der Bochumer Medizinaldirektor Johannes John: Ist Brune „eine soziale Drohne“? Der städtische Nervenarzt beurkundet 1980: Der „ewige Student“ Brune sei nicht für den Schuldienst geeignet. John diagnostiziert unter anderem auf Basis der 1943 angelegten Akte eine „Psychopathie“. Brune klagt gegen den Beschluss vor dem Verwaltungsgericht. Und bekommt Recht. 1983 kann er das zweite Staatsexamen ablegen. In den Schuldienst wird er trotzdem nicht übernommen. Von nun an ist Brune arbeitslos und lebt von Sozialhilfe.

Noch einmal versucht Brune gegen seine Peiniger zu kämpfen. 1987 beschuldigt er in einer WDR-Sendung die ehemaligen Leiter der sauerländischen „Irrenanstalt“ Niedermarsberg des Mordes. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft nimmt unter dem Aktenzeichen 45Js44/89 Ermittlungen gegen rund 400 Personen wegen des Verdachtes auf Mord und der Beihilfe zum Mord auf. Der Regionalforscher Bernd Walter unterstützt die Staatsanwälte mit seinen Erkenntnissen. Brune und etliche weitere Zeugen werden vernommen, die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft füllen 30 Leitz-Ordner – ohne Ergebnis. Der heutige Leiter der Dortmunder StaatsanwaltschaftUlrich Maaß sagt: „Einige Beschuldigte sind verstorben, anderen konnte keine Beteiligung nachgewiesen werden.“ Ohnehin sei nach 1945 Mord nicht nachweisbar gewesen, „es gab nur noch den Tatbestand der fahrlässigen Tötung. Und der ist lange verjährt“. Das Verfahren wird am 8. Oktober 1993 eingestellt.

Gerechtigkeit für 260 Euro

Brune macht weiter. Er prangert die Anstalten an, die in ihren Jahrbüchern die Untaten der vierziger und fünfziger Jahren verschweigen. Er sucht nach seiner Krankenakte, die ihn zum „Irren“ stempelte. Anfang der Neunziger schreibt ihm die Westfälische Klinik für Psychiatrie Münster, seine Unterlagen seien nach 30 Jahren vernichtet worden. Brune unternimmt einen letzten Anlauf. Gemeinsam mit der ehemaligen Grünen-Landtagsabgeordneten Brigitte Schumann schreibt er im Oktober 2000 erneut eine Petition an den Landtag. Brune will rehabilitiert werden.

Die Dinge kommen in Bewegung. 58 Jahre nachdem die vernichtende Akte über Paul Brune angelegt wurde. 41 Jahre nachdem er sich von der Entmündigung befreien konnte. 18 Jahre nachdem ihm die Ausübung seines erlernten Berufes verweigert worden ist, will sich der Petitionsausschuss des Landtages mit seinem Fall beschäftigen. Auch die angeblich verschwundene Akte taucht wieder auf. Wolfgang Schäfer vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe erklärt: „Als wir mit einer umfassenden Studie zur Situation der Psychiatrie in unserem Verband während der NS-Zeit begannen, haben wir tausende Akten aus den Krankenhäusern in unser Forschungsinstitut nach Münster gebracht.“ Aus einem Missverständnis heraus habe man Paul Brune mitgeteilt, seine Akte sei vernichtet worden. Im November 2002 gewährt der Petitionsausschuss Paul Brune Gnade. Er bekommt die höchste Entschädigung, die das Land Nordrhein-Westfalen zu gewähren vermag: zusätzlich zur Sozialhilfe 260 Euro Monatsrente.

Kostet Gerechtigkeit 260 Euro? Paul Brune hat Schmerzen im Rücken. Ein Halswirbel ist wegen des Hungers in der Kindheit deformiert. „Gerechtigkeit? Nee, die kann es sowieso nicht geben.“ Den Lehrer Sasse wollte er mal mit der Axt erschlagen, aber das ist lange her. Der Direktor des Landschaftsverbandes sagt: „Gerechtigkeit können wir nicht mehr geben. Aber ich versuche alles, um etwas von der Schuld abzutragen, die unsere Institution auf sich geladen hat.“

Es gibt weitere Schicksale wie das von Paul Brune, sagt die Grüne Schumann. Von den Kindern, die in den vierziger Jahren dem Töten in Aplerbeck entkamen, müssten etliche noch leben. Einer von ihnen ist Karl-Heinz W. aus Paderborn. Erst 1987 konnte er durchsetzen, dass seine Entmündigung, die auf der Grundlage psychiatrischer Gutachten aus der NS-Zeit verhängt worden war, aufgehoben wurde und er das Heim verlassen durfte. In seinen Lebenserinnerungen schreibt W.: „Ich wünsche mir so sehr, endlich auch mal selbstständig zu sein und eine eigene Wohnung zu bekommen.“

Paul Brune sitzt in Bochum und wippt wieder mit dem Oberkörper. Und sagt über seinen Leidensgenossen: „So ein netter Mann. So verzweifelt. “

 

http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel1393.php

 

 


 

 

 

Ehrenbürger Ibrahim

Die Universität trennt sich von ihrem Lieblingsarzt.

Jens Schley in studentischer Zeitung "UnAufgefordert", Mai 2000 S.23

Jussuf Ibrahim war bisher in Jena ein guter Name. Eine Kinderklinik, eine Straße und Kindertagesstätten sind nach dem aus Ägypten stammenden Kinderarzt benannt, der von 1917 bis zu seinem Tode 1953 die Universitätskinderklinik in Jena leitete. Ibrahim ist Ehrendoktor der Friedrich-Schiller-Universität (FSU). In der kleinen thüringischen Universitätsstadt gilt er vielen Einwohnern ob seiner medizinischen Leistungen als Legende.

Die andere, nicht so schöne Seite Ibrahims wollte dagegen lange Zeit kaum jemand hören, obwohl sie seit Jahren bekannt ist. Bereits 1985 wurde Ibrahim im Zusammenhang mit den Euthanasie- Morden im Dritten Reich genannt. Ibrahim hatte 1942 auf dem Höhepunkt der Mordaktionen behinderter Menschen auf die Krankenblätter einiger Kinder geschrieben: "Euthanasie beantragt". Obwohl diese Dokumente in Ost und West zugänglich waren, blieb es auch bis lange Zeit nach der Wende bei den sauberen Legenden vom "Arzt der Kinder".

Erst im vergangenen Jahr, nachdem Veröffentlichungen des ausgewiesenen Experten für Medizinverbrechen im Dritten Reich, Ernst Klee und der Jenenser Medizinhistorikerin Susanne Zimmermann, wurde das bereits bekannte wieder publik, zumal Klee und Zimmermann den alten Dokumenten neue hinzufügten.

 

"Euthanasie beantragt"

Aus diesen Dokumenten geht zweifelsfrei hervor, dass Ibrahim nicht nur um die Euthanasie-Verbrechen wusste, sondern sich zumindest an den Tangenten dieser Verbrechen als Mittäter engagierte. So schickte er 1944 ein fünfjähriges Zwillingskind mit der Maßgabe "keine aussichtsreiche Zukunft" und "Euth?" in die als Tötungsanstalt fungierende Nervenklinik Stadtroda, wo das Kind wenig später offiziell an Herz-Kreislauf-Schwäche starb. Nach der Veröffentlichung dieser und anderer Dokumente entlud sich in Jena eine Debatte ungewohnten Ausmaßes mit heftigen Emotionen. Klee und Zimmermann wurden einer West- Kampagne bezichtigt, hunderte von Artikeln und Leserbriefen kämpften in der Ortspresse für und wider den Arzt und die bei solchen Themen stets präsenten gleichen Medienfiguren waren auch in Jena sofort präsent und heizten die Diskussion zusätzlich an.

Die Universität, die sich wegen ihres jahrelangen Schweigens einer besonders heftigen Kritik ausgesetzt sah, tat das einzig richtige und setzte eine Kommission zur Überprüfung der Vorwürfe ein. Unter Leitung des Historikers Herbert Gottwald, der auch die Neubearbeitung der Universitätsgeschichte Jenas leitet, arbeitete die Kommission schnell und mit einer Sachlichkeit, die beispielgebend für ähnliche Probleme sein könnte.

 

Zwingende Erkenntnisse

Bereits Ende April legten die sechs Hochschullehrer eine nüchterne und in ihren Ergebnissen nie polemische Expertise vor, die sich auch nicht scheute, bestehende Defizite im Umgang mit der eigenen Universitätsgeschichte deutlich zu benennen. So wurde das Fehlen von Untersuchungen zur Medizin im Nationalsozialismus an der FSU ebenso kritisiert wie das Fehlen einer wissenschaftlichen Biographie Ibrahims, die eine Gesamtdarstellung seiner Person ermöglicht und an die Stelle existierender Legenden tritt. Denn die lassen sich nicht mehr aufrechterhalten. In sieben Fällen, so das Ergebnis der Kommission, hat Ibrahim zwischen 1941 und 1945 Kinder nach Stadtroda zur Euthanasie überwiesen, alle sieben Kinder verstarben. Dass er trotz seiner Kenntnis der Vernichtungsaktion Kinder nach Stadtroda überwiesen hat, läßt auch den Einwand der Verteidiger Ibrahims nicht bestehen, der Arzt habe zwar gewußt, aber nicht anders handeln können. Aus dieser Erkenntnis folgt für die Kommission zwingend, dass die Universitätsklinik nicht mehr den Namen Jussuf Ibrahim tragen kann. Ein entsprechender Beschluß des Akademischen Senats der FSU folgte den Empfehlungen der Kommission.

Die Universität bemüht sich nun, die Versäumnisse der letzten Jahre möglichst konsequent aufzuholen. Dazu gehört eine öffentliche Entschuldigung und ein Gedenk-Gottesdienst für die Euthanasie-Opfer sowie besondere Förderung von Forschungen zu diesem Thema.

 

Angst vor der Heiligenfigur

Lediglich in der Kommunalpolitik ist der Name Ibrahim im Zusammenhang mit Euthanasie nach wie vor ein Tabu. Im Vorfeld der am 14. Mai stattgefundenen Oberbürgermeisterwahlen spielte dieses Thema keine Rolle. Peter Röhlinger, der alte und neue Oberbürgermeister der Stadt, hat noch immer Angst vor der für viele Jenenser nach wie vor gültigen Heiligenfigur Ibrahim. Röhlinger verrechnet immer noch die guten und bösen Taten Ibrahims: "Er schützte doch auch jüdische Familien", sagt Röhlinger entschuldigend und will damit erst mal Ruhe schaffen. Bis weit nach der Wahl. Dann vielleicht kommt auch die Zeit, dass sich Jenas Lokalpolitiker mit ihrem Ehrenbürger Jussuf Ibrahim auseinandersetzen.

 

 

Anmerkung: Der vollständige Bericht der Kommission kann unter www.verwaltung.uni-jena.de/oeff/ibrahim

heruntergeladen werden.

 

http://userpage.fu-berlin.de/~gplanost/sozial.html

 

 

 


 

 

 

Der Hesterberg. 125 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik in Schleswig. Eine Ausstellung zum Jubiläum der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie des Heilpädagogikums in Schleswig.

(Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs, Band 56)

Schleswig 1997, 157 S.

Die Psychiatrie im Nationalsozialismus gehört zu dem Teil der NS-Medizin, der als relativ gut untersucht gelten kann. Auch der grauenhafteste Aspekt der Psychiatriehistorie, die als "Euthanasie" bezeichnete Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen, ist in jüngster Zeit Forschungsgegenstand zahlreicher Studien; einschlägige Publikationen hierzu liegen sowohl für einzelne Regionen als auch in Form von überregionalen Gesamtdarstellungen vor. Für Schleswig-Holstein hingegen ist die "Euthanasie" bisher recht rudimentär erforscht. Umso verdienstvoller ist der zu besprechende Austellungskatalog Der Hesterberg, der sechs Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten der Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig enthält. Dabei bildet die NS-"Euthanasie" den thematischen Schwerpunkt der Publikation.

Die Historikerin Susanna Misgajski, die die sehenswerte Austellung konzipierte und gestaltete, stellt in ihrem Beitrag die Geschichte der Schleswiger Kinder- und Jugendpsychiatrie von der Gründung der Anstalt 1852 bis zum Zusammenbruch des "Dritten Reiches" dar. Dem Aufsatz vorangestellt ist ein Exkurs über die sozialgeschichtlichen Entwicklungen der Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Dabei findet die These Klaus Dörners von der Entstehung und Entwicklung der "Sozialen Frage" Berücksichtigung. Es folgt eine detailreiche Darstellung der Gründungsgeschichte der Schleswiger Anstalt. Die Verfasserin arbeitet hier heraus, daß die Betreuung der psychisch kranken und geistig behinderten Kinder zunächst als primär pädagogische Aufgabe gesehen wurde; medizinische Konzepte fehlten bzw. erwiesen sich als erfolglos. Erst mit der Jahrhundertwende vollzog sich auch auf dem Hesterberg ein für die deutsche Psychiatrie kennzeichnender Wandel von der pädagogischen Betreuung zur medizinischen Versorgung der Kinder; personeller Ausdruck dessen war der Leitungswechsel vom Pädagogen Friedrich Ludwig Stender zum Mediziner August Stender, Sohn des Vorgenannten, im Jahre 1895. Die Belegungszahlen der 1900 von einer privaten Einrichtung in die öffentliche Hand der schleswig-holsteinischen Provinzialverwaltung übergegangenen Anstalt expandierten von 11 Kindern im Gründungsjahr auf 226 zum Zeitpunkt der Deprivatisierung. Dem weiteren kontinuierlichen Anstieg der Patientenzahlen auf schließlich ca. 500 Kinder und Jugendliche im Jahre 1923 wurde durch großzügige räumliche und personelle Erweiterungen Rechnung getragen. Der Beginn der Dualität von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Fürsorgeerziehung auf dem Hesterberg ist gekennzeichnet durch die Aufnahme von 40 "Fürsorgezöglingen" im März 1918, da in den Provinzial-Erziehungsheimen Unterbringungsschwierigkeiten bestanden.

Recht ausführlich werden die Betreuungs- und Therapiekonzepte in den Jahren der Weimarer Republik dargestellt. Neben fortschrittlichen Methoden wie der Arbeitstherapie für die psychiatrischen Patienten und einer sonderpädagogischen Betreuung für die als "schwer erziehbar" geltenden "Fürsorgezöglinge" sowie der konsequenten Beschulung mit der Möglichkeit der Erlangung von Schulabschlüssen und Berufsqualifikationen für beide Klientengruppen fanden auch gewaltgeprägte Maßnahmen, etwa Fixierungen, "Dauerbäder" in kaltem Wasser und die sog. Elektroschock"therapie" Anwendung. Ausdruck des Versuches der Somatisierung psychiatrischer Erkrankungen war das Hesterberger Röntgeninstitut, in dem die Kinder und Jugendlichen Röntgenbestrahlungen des Kopfes erhielten.

Mit Beginn des "Dritten Reiches" vollzogen sich tiefgreifende Anstaltsumstrukturierungen zu Lasten der Psychiatriepatienten und "Fürsorgezöglinge". Die Patienten wurden vollkommen willkürlich und wahllos innerhalb Schleswig-Holsteins in andere Anstalten verlegt, von dort teilweise weitertransportiert oder wieder nach Schleswig-Hesterberg zurückgebracht; so stieg in den dreißiger Jahren die Zahl der "Fürsorgezöglinge", während die Anzahl der Psychiatriepatienten sank. Die Betroffenen waren "Verfügungsmasse" der nationalsozialistischen Provinzialverwaltung und die Anstalten dienten nunmehr der Verwahrung und Asylierung ohne primären therapeutischen Auftrag.

Der den Beitrag abschließenden Darstellung der Schleswiger "Kinderfachabteilung" vorangestellt ist ein kurzer Abriß der geistes- und realgeschichtlichen Entwicklung von der Eugenik zur NS-"Euthanasie". Opfer dieser verhängnisvollen Entwicklung wurden auch Kinder und Jugendliche der Hesterberger Anstalt, wobei Schleswig erst relativ spät von der T4-Mordaktion erfaßt wurde. In der Zeit von Mai bis August 1941 wurden die Opfer mit insgesamt fünf Sammeltransporten in die Tötungsanstalt Bernburg deportiert. Auch im letzten Jahr der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, im September 1944, wurden 697 Schleswiger Patienten in den Tod geschickt; sie wurden in die Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde deportiert. Die leitende Ärztin der Hesterberger Anstalt, Dr. Erna Pauselius, wußte zu jeder Zeit von dem Zweck der Transporte und von der tödlichen Funktion der Zielanstalten.

Unter Leitung von Erna Pauselius bestand seit Dezember 1941 auf dem Hesterberg eine "Kinderfachabteilung", die der Selektion und Tötung behinderter Kinder im Rahmen der NS-Kinder"euthanasie" diente. Folglich stieg seit Ende 1941 die Mortalität in der Hesterberger Anstalt signifikant an; die Kinder starben vorwiegend in Folge pflegerischer und therapeutischer Nichtversorgung somatischer Erkrankungen, wie die Autorin an Einzelschicksalen belegt. Die Tötungsmethode unterlassener Pflege und verweigerter adäquater Therapie ist kennzeichnend für die sog. zweite Phase der "Euthanasie".

Der notwendige Hinweis auf die erschreckenden inhaltlichen Parallelen von Eugenik bzw. Rassenhygiene und der aktuellen Bioethik beschließt den auf umfassender Quellengrundlage basierenden und informativen Beitrag.

Der Frage 216 verstorbene Kinder der Kinderfachabteilung Schleswig - Tötung, Verwahrlosung oder 'natürlicher Tod'? geht die Medizinerin Annette Grewe mit gutachterlicher Qualität nach. Ihr Beitrag basiert auf der Analyse therapeutischer Standards und ihrer Anwendung bei der an Lungenentzündung erkrankten und verstorbe-nen Patienten der Schleswiger Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dabei wird belegt, daß ein großer Anteil der Kinder und Jugendlichen mit einer Lungenentzündung keinerlei medizinische Therapie erhielten, obwohl diese Erkrankung seit Entdeckung der Sulfonamide Mitte der dreißiger Jahre ursächlich behandelbar war. Die Verfasserin weist die die NS-Medizin kennzeichnende, an gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen orientierte Selektion hinsichtlich therapeutischer Maßnahmen nach; Patienten mit einer geringradigen psychischen oder neurologischen Behinderung wurden im Falle einer Lungenentzündung mit Sulfonamiden zumeist erfolgreich behandelt, während solche mit schwerwiegender Behinderung nicht therapiert wurden und verstarben. Diese Kinder wurden sodann dem "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden", der zentralen und weisungsbefugten Institution der Kinder"euthanasie", als "behandelt" - Nazijargon für ermordet - gemeldet.

Die gescheiterte juristische Nachkriegsauseinandersetzung mit der NS-"Euthanasie" in Schleswig-Holstein zeichnet der Historiker Uwe Danker in seinem Beitrag Verantwortung, Schuld und Sühne - oder: "...habe ich das Verfahren eingestellt" nach. In zwei Verfahren (1945 bis 1950 und 1961 bis 1965) wurde gegen mutmaßliche Verantwortliche der Patientenmorde in Schleswig-Holstein ermittelt. Beide Verfahren wurden eingestellt, ohne daß nur einer der Beschuldigten strafrechtlich belangt wurde; beide Verfahren leitete der Oberstaatsanwalt Dr. Paul Thamm, der als Ankläger des schleswig-holsteinischen Sondergerichtes ein exponierter Repräsentant der NS-Unrechtsjustiz gewesen war. Es ist ein ernüchternder Befund der ausgezeichneten Darstellung Dankers, daß die Ermittlungsverfahren ohne strafrechtliche Konsequenzen blieben, obwohl sich die Staatsanwaltschaft ein sehr präzises Bild der "Euthanasie"-Aktionen erarbeitet hatte und die Beteiligungen der Beschuldigten daran bekannt waren. In den beiden staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen trat ein perfektes System der Delegierung von Verantwortung in der Durchführung des geplanten, arbeitsteiligen Massenmordes zutage, das den Tätern mit der Verantwortungsdelegierung auch die projektive Abwehr von Schuldgefühlen ermöglichte. Dieses System der Verantwortungsleugnung und -delegierung hatte offenbar wirkungsvollen Bestand bis in die sechziger Jahre und konnte von der schuldhaften "Unschuld" der Vollstrecker der nationalsozialistischen Ausmerzepolitik überzeugen.

Der Beitrag Kieler Nachkriegsordinarien der Medizin und die NS-Euthanasie des Juristen Klaus-Detlev Godau-Schüttke zeigt, daß die Protagonisten des Kranken- und Behindertenmordes nicht nur in juristischer Hinsicht ungestraft davonkamen, sondern außerdem ihre berufliche und wissenschaftliche Karriere haben ungehindert fortsetzen können - so etwa der Pädiater Werner Catel. Catels Berufung zum Ordinarius für Kinderheilkunde nach Kiel 1954 wurde mit breiter Unterstützung der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität erwirkt, obwohl seine Funktion als "Gutachter" im Rahmen der Kinder"euthanasie" hier hinlänglich bekannt war. Auch der international steckbrieflich gesuchte "Euthanasie"-Massenmörder Werner Heyde, der unter dem Falschnamen Dr. Fritz Sawade als medizinischer Gerichtsgutachter im Schleswig-Holstein der fünfziger Jahre Karriere machte, wurde von zahlreichen Mitgliedern der Kieler Medizinischen Fakultät jahrelang gedeckt. An Hand dieser Beispiele macht der Aufsatz von Godau-Schüttke deutlich, daß neben ideologischen auch personelle Kontinuitäten des Nationalsozialismus einen demokratischen Neubeginn - freilich nicht nur in Schleswig-Holstein - konterkarierten.

Die letzten zwei Beiträge gelten der Gegenwart der Schleswiger Fachklinik. Die Leitende Ärztin Dörte Stolle stellt die Entwicklung und den aktuellen Stand der Arbeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Schleswig dar. Nach der Beschreibung der Genese der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einer eigenständigen medizinischen Fachdisziplin stellt die Autorin die Entwicklung der Schleswiger Einrichtung seit dem Kriegsende bis in die Gegenwart dar. Diese Entwicklung war offenbar derart defizitär, daß erst mit Beginn der neunziger Jahre ein diagnostischer und therapeutischer Standard erreicht werden konnte, der dem nationalen und internationalen Vergleich standhält. Leider werden die Gründe für diese erstaunlich späte Optimierung der Klinik nicht dargelegt. Es folgt eine sehr ausführliche Darstellung der vielfältigen diagnostischen und therapeutischen Methoden, die einen interessanten Einblick in die kinder- und jugendpsy-chiatrische Arbeit gibt, sowie eine kritische Würdigung der die Kinder- und Jugendpsychia-trie beeinflussenden gesellschaftspolitischen Situation. Der Beitrag schlägt also den Bogen in die Gegenwart und stellt somit eine sinnvolle Ergänzung zum Aufsatz von Susanna Misgajski dar.

Der Psychologe Franz Kiefer stellt das Schleswiger Heilpädagogikum vor. Diese Institution ist eine aus dem Langzeitbereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie hervorgegangene heilpädagogische Einrichtung der Behindertenhilfe; hier hat sich also ein Paradigmenwechsel von der medizinischen Versorgung zur pädagogischen Begleitung vollzogen. Es werden mit heilpädagogischen Methoden geistig und körperlich behinderte Menschen mit zumeist hospitalisierungsbedingten Schädigungen betreut und gefördert. Diese Arbeit ist geprägt von dem Ethos, daß behinderte Menschen in ihrem Anderssein gegenüber den Nichtbehinderten als gleichwertige Existenzform ohne spezifischen Krankheitswert akzeptiert sind - eine ausgesprochen wohltuende Aussage angesichts der gegenwärtigen utilitaristisch-bioethischen Propaganda für den prä- und postnatalen Behindertenmord. Unter dieser Prämisse skizziert der Autor die Leitlinien einer akzeptierenden Behindertenpädagogik: Normalisierung der Lebensverhältnisse, Integration und Personalität behinderter Menschen. Das so akzentuierte Verständnis Behinderter droht allerdings in Zeiten schwindsüchtiger öffentlicher Kassen preisgegeben zu werden zugunsten der kostengünstigeren "Satt-und-sauber-Pflege" Behinderter ohne jede heilpädagogische Förderung. Also erneut bloße Verwahrung statt professioneller Begleitung und Hilfe?

Die Ausstellung zur Geschichte der Hesterberger Kinder- und Jugendpsychiatrie wird 1998 als Wanderausstellung in verschiedenen Orten Schleswig-Holsteins zu sehen sein.

Ein Besuch lohnt sich!

Eckhard Heesch

 

http://www.akens.org/akens/texte/diverses/hesterberg.html

 

 

 


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