Familienidylle
Trauer
Der unfassbare Vierfachmord von Eislingen
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Von Marcus Lauer 18. April 2009, 14:02 Uhr
Ungläubig stehen Freunde und Verwandte vor den Särgen der getöteten Familie in Eislingen. Warum musste diese beliebte und unauffällige Familie sterben? Ist der festgenommene 18-jährige Sohn wirklich an dem Mord beteiligt? Die Details der Tat offenbaren eine rücksichtslose Brutalität.
Foto: DPA
Das Bild einer unfassbaren Tat. Vier Särge stehen in der Kirche von Eislingen...
Wie schön das Leben sein kann. Manchmal. Wie bei dieser Familie auf dem Foto: Die Eltern, drei Kinder, zwei Mädchen, Ann-Christin, 24, Annemarie, 22, und Andreas, 18, wohl geraten, hübsch alle, zufrieden mit sich und der Welt. Alle fünf sitzen im Wohnzimmer. Ein volles Lachen im Gesicht, der Sohn mit einem Arm um den Vater.
Hansjürgen H., Heilpraktiker im schwäbischen Eislingen, legte das Foto einem kurzen Brief bei, den er zu Weihnachten an Verwandte und Freunde der Familie schickte. Am Anfang berichtete er darin vom schönen Urlaub auf Mallorca im Mai, bei dem auch Frederik, ein guter Freund von Andreas, dabei war. Er endet mit den Worten: „Mit unseren eigenen Kindern sind wir sehr gesegnet. Alle sind gesund und machen uns viel Freude. Ich hoffe, dass alle, die diesen Brief lesen, genauso gesund und zufrieden sind wie wir.“
Vier Monate später sind alle auf dem Foto tot. Erschossen. Alle, außer Andreas. Am Karfreitag um 10.42 Uhr ruft er die Polizei an und meldet mit tränenerstickter Stimme, dass er seine ganze Familie tot in der Wohnung gefunden habe. Dann rennt er hinaus auf die Straße und brüllt, zwei Mal, drei Mal: „Gestern Abend haben sie noch gelebt!“ Der Sohn steht unter Schock, so scheint es. Auch er ein Opfer: Er hat nun keine Familie mehr.
Eine unfassbare Wendung im Fall
Eine Woche später verkündet die Polizei bei einer Pressekonferenz in Ulm eine andere Wahrheit: Andreas der mutmaßliche Täter. Zusammen mit seinem Schulfreund Frederik, jenem, der die Familie im Urlaub auf Mallorca begleitete, soll er die ganze Familie umgebracht, insgesamt 31 Kugeln auf sie alle abgefeuert haben. 31 Kugeln Hass. Frederik hat gestanden: „Wir waren das zusammen“, sagt er der Polizei. Andreas schweigt beharrlich. Nach den Ermittlungen der Polizei verlief der Gründonnerstag wie folgt:
Zwei Männer sollen eine Familie hingerichtet haben
Gegen neun Uhr abends verlässt das Ehepaar H. sein Zuhause in der Friedhofstraße, um in eine Gaststätte zu gehen. Das gelbgetünchte Mehrfamilienhaus, das ihnen gehört, liegt in einer ruhigen Tempo-30-Zone. Drei Wohnungen darin hat die Familie vermietet. Im Erdgeschoss befindet sich Hansjürgen H.s Praxis und ganz oben, in einer Maisonettewohnung im dritten Stock, wohnt die Familie. Auch die beiden erwachsenen Töchter. Sie leben noch gerne zuhause, außerdem sparen sie sich die Miete. Die Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd, wo beide wie einst ihre Mutter Lehramt studieren, ist nur 20 Kilometer entfernt.
Hansjürgen H. ist ein großer, sehniger Mann, der jünger aussieht als seine 57 Jahre. Else H. ist eine attraktive Frau mit dunkelblondem halblangem Haar. Auch sie wirkt deutlich jünger als ihre 55 Jahre. Sie ist Englischlehrerin. Er genießt einen guten Ruf als Heilpraktiker. Auch über die Stadt hinaus. Zum essen nimmt er sich selten Zeit. Das Wartezimmer ist meist voll. Zeit zu haben für andere ist ihm wichtiger als für sich selbst. Deswegen engagiert er sich auch seit zwanzig Jahren nebenbei in der nahen Lutherkirche.
Andreas bricht an diesem Abend vor Karfreitag, so ermittelt es die Polizei später, zusammen mit Frederik von dessen Wohnung auf, etwa einen Kilometer entfernt vom Haus der H.s. Sie ziehen die blaue Schiebetür auf, die in die Wohnung von Andreas Familie führt, sie gehen vorbei an dem Osternest mit den bemalten Eiern, das auf einem Schrank im Treppenhaus steht.
Sie haben die beiden Kleinkaliberwaffen dabei, die sie zusammen mit 16 weiteren Waffen im Oktober letzten Jahres aus dem Haus der Schützengilde in Eislingen gestohlen haben sollen, bei der Andreas Mitglied ist und Frederik es war. Zehn Schüsse feuern sie auf die ältere Schwester Ann-Christin ab, neun auf Annemarie. Beide schauten gerade auf dem Bett liegend einen Film. Der Fernseher läuft einfach weiter.
Dann gehen sie in jene Gaststätte, in der die Eltern sind. Zwischen elf Uhr und halb zwölf sitzen sie mit ihnen zusammen, trinken etwas, unterhalten sich. Den übrigen Gästen im Lokal fällt nichts auf, was auf einen Streit deuten könnte. Dann gehen sie zurück in die Wohnung und warten. Als Hansjürgen und Else H. um kurz nach halb eins durch die Tür treten, werden auch sie erschossen, mit zwölf Kugeln. Keiner der anderen Bewohner im Haus hört etwas – wegen der Schalldämpfer, die die Jungen verwenden.
Schon früh geraten Andreas und Frederik in Verdacht. Bei Vernehmungen zu ihren Alibis verstricken sie sich in Widersprüche. An den Händen der beiden werden Schmauchspuren gefunden. Bereits am Karsamstag folgt die Verhaftung. Frederik verrät der Polizei, dass sie die aus dem Schützenhaus gestohlenen Waffen auf einem Dachboden eines Hauses versteckt hätten. Einige Tage später wird die Polizei die Tatwaffen und die Kleidung, die die beiden am Tatabend trugen, vergraben im Wald finden.
Es ist Freitag in Eislingen, eine Woche nach der Tat, der graue Himmel sprüht Nieselregen. Auf der Bank vor dem Haus in der Friedhofstraße stehen Blumen, brennen Kerzen, liegen Briefe. Auf dem Fenstersims über der Bank hängt ein in Plastik eingeschweißtes Blatt Papier: „Wenn tief in Deiner Seele ein kleines Lichtlein brennt, sei dankbar für den hellen Schein, weil man ihn Hoffnung nennt. Er soll für Dich scheinen, wann immer Du ihn brauchst und soll Dir immer sagen: ’Pass bitte auf Dich auf!’“ Und am Ende: „Andi, wir glauben an Dich.“
Ein Mieter aus dem Haus, 70 Jahre alt, den Andreas oft in seiner Wohnung besuchte, sagt: „Wenn er es wirklich war, dann soll er mir das schon selbst sagen.“ Eine harmonischere Familie wie die H.s kenne er nicht. Und schließlich fügt er noch hinzu, viel leiser: „Na ja, er wird es mir wohl nicht mehr persönlich sagen können.“
Sechs Kilometer entfernt, im Schulzentrum Öde in der Kreisstadt Göppingen, sitzt Werner Stepanek und ist verzweifelt. Stepanek ist Rektor des Wirtschaftsgymasiums, das Andreas H. besuchte. Am Montag würde die Schule wieder losgehen für ihn. Jetzt sitzt er in Stammheim in Untersuchungshaft. Stepanek versteht das alles nicht. Andreas sei „ein unglaublich reflektierter Mensch für seine 18 Jahre, sehr beliebt, sehr integriert, mittendrin, ohne sich in den Vordergrund zu spielen.“ Es gäbe einfach überhaupt keine Hinweise auf so eine Tat. Beide seien „von Lehrern, Schülern, Jungs, Mädchen“ anerkannt gewesen. Was wolle denn ein Jugendlicher noch mehr erwarten? „Ich glaube gerade an nichts mehr,“ sagt Stepanek, „ich stehe diesem Wahnsinn völlig hilflos gegenüber.“
Es will einfach nicht zusammenpassen. Andreas H. hatte mit Auszeichnung die Realschule abgeschlossen, bevor er im vorvergangenen Jahr auf das Wirtschaftsgymnasium wechselte. Er war in der Kirche aktiv ebenso wie beim DLRG. Stepanek erzählt, wie Andreas ihm in seinem Büro vor einigen Monaten ausführlich von seiner Pilgerreise auf dem Jakobsweg erzählte. Und er erinnert sich noch daran, wie Andreas am letzten Schultag vor Ostern über den Hof lief und ihm zuwinkte.
Bis zuletzt hoffte Stepanek, dass sich der Verdacht gegen Andreas und Frederik nicht erhärten würde. Nun sagt er: „Ich bin völlig verunsichert, was meine Menschenkenntnis anbelangt.“
In der Lutherkirche in Eislingen fand die Trauerfeier statt. Andreas H. bat darum, sie besuchen zu dürfen. Es wurde abgelehnt. Sie wurde ohne ihn abgehalten. In jener Kirche, wo am kommenden Mittwoch Andreas Vater, Hansjürgen H. einen Gesprächsabend für die Gemeindemitglieder abhalten wollte, unter dem Motto: „Durst nach Leben.“
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