Glaubhaftigkeit

Glaubwürdigkeitsbegutachtung - Aussagepsychologie


 

 

 

"Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 30. Juli 1999 zur Frage der wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) und die Folgen für die Sachverständigen"

 

Rainer Balloff in: "Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat". 49: 261-274 (2000), ISSN 0032-7034

in dem Artikel geht es hauptsächlich um den Verdacht des "Sexuellen Missbrauchs" und die Anforderungen an dazu eingeholte Begutachtungen.

 

 


 

 

Justizirrtum um Ralf Witte

Der Justizirrtum um Ralf Witte betrifft den Fall des deutschen Straßenbahnfahrers Ralf Witte (* 1964), der 2004 zu Unrecht wegen Vergewaltigung zu zwölf Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe verurteilt und nach fünf Jahren Haft in einem Wiederaufnahmeverfahren 2010 freigesprochen wurde.

Unmittelbar damit verbunden war der Fall seines 15 Jahre älteren[1] Bekannten Karl-Heinz Wulfhorst, der ebenfalls im Jahr 2004 zu Unrecht wegen Vergewaltigung zu einer Haftstrafe verurteilt und im Jahr 2010 freigesprochen wurde. Die beiden Fälle werden auch zusammenfassend als „Fall Witte/Wulfhorst“ bezeichnet.[2][3][4]

Inhaltsverzeichnis

1 Fall
1.1 Beschuldigung und Verurteilung (2001–2004)
1.2 Nach der Verurteilung
1.3 Wiederaufnahme und Freispruch (2009–2010)
1.4 Nach dem Freispruch
2 Siehe auch
3 Literatur
4 Weblinks
5 Einzelnachweise

Fall


Beschuldigung und Verurteilung (2001–2004)

Ralf Witte lebte 2001 in einem Dorf bei Hannover zusammen mit seiner zweiten Ehefrau, zwei Kindern aus erster Ehe und einem Kind aus seiner zweiten Ehe. Die damals 15-jährige Jennifer W.,[5], Tochter seines Bekannten Karl-Heinz W.,[5] war bei ihm als Kindermädchen tätig. Einige Zeit nach ihrem letzten Einsatz zeigte Jennifer Ralf Witte wegen Vergewaltigung an.[6] Sie beschuldigte ihn, sie entjungfert und gemeinsam mit ihrem eigenen Vater mehrfach brutal vergewaltigt zu haben.[7] Gegen Witte und Karl-Heinz W. wurde Untersuchungshaft angeordnet. Da Witte ein Alibi für fünf der vermeintlichen Tatzeitpunkte vorweisen konnte und keinerlei DNA-Spuren gefunden wurden, wurde er nach 23 Tagen[8] aus der Untersuchungshaft entlassen.

Dennoch kam es zu einer Anklage vor dem Landgericht Hannover. Das Verfahren zog sich mit 42 Verhandlungstagen über elf Monate hin.[9] Witte hatte auf frühzeitiges Anraten seines Anwalts rekonstruiert, was er an den angeblichen Tattagen, davor und danach getan und wo er sich aufgehalten hatte, und konnte für diese Tage Alibis vorweisen, die das Gericht jedoch nicht gelten ließ. Als Wittes Vorgesetzter dessen Anwesenheit am Arbeitsplatz an einem vermeintlichen Tattag bestätigte, erklärte das Gericht, Jennifer W. könne sich ja in der Woche geirrt haben, was darauf hinauslief, dass alle Alibis wertlos seien. Witte protestierte gegen dieses Vorgehen, er zeigte einem Richter dabei einen Vogel und redete ihn mit „Du Idiot“ an.[10] Trotz der Alibis und obwohl eine medizinische Untersuchung die Jungfräulichkeit des Mädchens festgestellt hatte,[11] wurde Witte am 7. Mai 2004 zu zwölf Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.[12] Karl-Heinz W. wurde zu fünf Jahren und acht Monaten Haft verurteilt.[13] Zwei Gutachter hatten im Verfahren erklärt, Jennifer W. sei absolut glaubwürdig.[7][9]

Dass Witte zu einer viel längeren Haftstrafe verurteilt wurde als Karl-Heinz W., obwohl es im Wesentlichen um dieselben Tatvorwürfe ging, erklärte er sich im Nachhinein damit, dass er sich im Bewusstsein seiner Unschuld während des Prozesses siegessicher gefühlt habe und gegenüber dem Richter immer wieder respektlos aufgetreten sei.[14]

Nach der Verurteilung

Am 15. September 2004, vier Monate nach der Verurteilung, erhob das vermeintliche Opfer Jennifer W. bei der Staatsanwaltschaft Hannover neue Anschuldigungen.[2] Sie sei seit ihrem achten Lebensjahr Opfer eines Mädchenhändlerrings gewesen und über Jahre hinweg unter anderem von ihrem Vater[7] vergewaltigt und dabei gefilmt worden.[15] Dabei habe sie mit ansehen müssen, wie ein von einem anderen Opfer geborenes Baby an die Wand geworfen und so getötet worden sei.[9][16] Die neue Behauptung, sie sei bereits als Achtjährige immer wieder vergewaltigt worden, stand dabei im Widerspruch zu ihrer vorigen Behauptung, sie sei als 15-Jährige durch Ralf Witte entjungfert worden.[7]

Die Staatsanwaltschaft klärte diesen Widerspruch nicht auf und prüfte die anderen Behauptungen von Jennifer W. ohne Ergebnis. Weder konnten die Beschuldigten identifiziert noch der Tatort lokalisiert werden. Das Verfahren über die Revision von Ralf Wittes Urteil beim Bundesgerichtshof war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen, trotzdem leitete die Staatsanwaltschaft ihre Erkenntnisse nicht weiter.[15] Außer dem ermittelnden Staatsanwalt waren auch dessen Behördenleiter, der stellvertretende Behördenleiter sowie der hannoversche Polizeipräsident über die problematischen und inkonsistenten Aussagen von Jennifer W. informiert. Auch sie hätten von Amts wegen ihre Erkenntnisse, die die Verurteilten entlasteten, nicht verschweigen dürfen.[1]

Die Ermittlungen um die neuen Anschuldigungen ließ man etwa drei Jahre ruhen. In dieser Zeit habe man „immer wieder versucht, mit Jennifer W. weitere Gespräche zu führen, um konkretere Angaben über den Mädchenhändlerring zu bekommen“, was aber in den drei Jahren nicht gelungen sei. Mal teilte Jennifer W.s Anwältin den Ermittlern mit, ihre Mandantin befinde sich im Ausland, dann, sie lebe unter falschem Namen in Hannover und sei deshalb nicht aufzufinden.[7] Dabei gab Jennifer W. in der Zeit, in der sie der Staatsanwaltschaft nicht zur Verfügung stand, der Zeitschrift Bravo ein Interview und war anschließend in dem Heft auf Fotos eindeutig zu erkennen.[1] Schließlich wurde das Verfahren eingestellt. Anfang 2008 erklärte Jennifer W. gegenüber der Behörde, in der Sache keine Angaben mehr machen zu wollen. Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Falschaussage ein.[7]

Wiederaufnahme und Freispruch (2009–2010)

2009 erreichte Johann Schwenn als Ralf Wittes neuer Rechtsanwalt eine Wiederaufnahme des Prozesses gegen Witte. Er warf der Staatsanwaltschaft vor, entlastendes Material zurückgehalten zu haben, und sprach von einem Justizskandal. Die Behörde wies den Vorwurf zurück. Das für die Wiederaufnahme zuständige Landgericht Lüneburg ließ ein neues Gutachten über die Zeugin Jennifer W. erstellen, das zu dem Ergebnis kam, es gebe deutliche Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit.[15] Sie leide an einer Borderline-Symptomatik.[17] Daraufhin ordnete das Landgericht nach fünf Jahren Haftdauer die sofortige Unterbrechung der Vollstreckung und die Freilassung Wittes an.[15]

Nach anderthalb Jahren Wiederaufnahmeverfahren und fünf Wochen Verhandlung ließ Jennifer W. über ihre Anwältin kurz vor dem Urteilsspruch ein Attest vorlegen, nach dem sie aufgrund der angeblichen Vergewaltigungen an Krebs erkrankt sei.[18] Der Richter unterbrach die Sitzung und klärte noch am selben Tag persönlich auf, dass es sich bei dem Attest um eine Totalfälschung handelte.[19] Ralf Witte und Karl-Heinz Wulfhorst wurden am 8. September 2010 durch das Landgericht Lüneburg vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. In seiner Begründung führte der Vorsitzende Richter aus: „Dieser Fall hätte in Hannover nicht einmal angeklagt werden dürfen.“[16]

Schon ein halbes Jahr vor seiner Freilassung war Ralf Witte in einem Zivilprozess freigesprochen worden, in dem Jennifer W. versucht hatte, Schadensersatz von ihm zu erlangen. Dieses Urteil war ein Wendepunkt.[20] Auf seiner Website schreibt Witte, er habe in diesem Zivilprozess am Landgericht Hannover gute Erfahrungen machen dürfen, „also es ist nicht alles schlecht, was in diesem Hause entschieden wird“.[21]

Nach dem Freispruch

Wittes Verteidiger Johann Schwenn äußerte nach dem Freispruch harsche Kritik wegen der Fehlurteile im Jahr 2004. Er warf den damals beteiligten Richtern und Staatsanwälten am Landgericht Hannover Unfähigkeit und „unglaubliche Unprofessionalität“ vor. Das Gericht in Hannover sei zugunsten des vermeintlichen Opfers befangen gewesen. Dies sei auch an dem hochemotionalen Ton der damaligen Urteilsbegründung erkennbar, der allein schon den Bundesgerichtshof hätte veranlassen sollen, das Urteil aufzuheben.[1] Gegen die Berichterstatterin der hannoverschen Strafkammer wurde nach einer Strafanzeige Schwenns ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der falschen uneidlichen Aussage eingeleitet, nachdem sie sich während des Wiederaufnahmeverfahrens in erheblichem Umfang auf Gedächtnislücken berufen hatte.[12] Gegen die Staatsanwälte in Hannover wurde ebenfalls aufgrund einer Strafanzeige Schwenns[1] ein Verfahren wegen Rechtsbeugung eingeleitet. Der niedersächsische Justizminister Bernd Busemann kritisierte das Verhalten der Staatsanwaltschaft und drückte sein Bedauern wegen der fehlerhaften Verurteilungen und ihrer gravierenden Folgen aus.[17]

Jennifer W. bekam aus Angst vor Witte und ihrem Vater eine neue Identität; für das gefälschte Attest musste sie eine Geldbuße in Höhe von 5.000 Euro zahlen.[18] Die Gutachter, die ihr im Jahr 2004 Glaubwürdigkeit attestiert hatten, wurden wegen ihrer damaligen Fehlentscheidungen nicht zur Rechenschaft gezogen. Ebenso wie das Landgericht Hannover verweigerten sie im Jahr 2013 Stellungnahmen gegenüber dem Fernsehmagazin Panorama.[22]

Nach seinem Freispruch sagte Ralf Witte: „Die Geschichte hat zehn Jahre meines Lebens zerstört. Fünf Jahre und acht Monate, die ich im Gefängnis gesessen habe, kann man nicht mit Geld wiedergutmachen.“ Seine Stelle bei den Hannoverschen Verkehrsbetrieben hatte er verloren, Freunde und Bekannte hatten sich abgewandt.[16] Er litt nach seiner Haftstrafe an Angstzuständen, war arbeitsunfähig und ging in Rente.[23] Auch sein Haus musste er aufgeben.[24] Für die zu Unrecht erlittenen fünfeinhalb Jahre Haft erhielt er 50.000 Euro Haftentschädigung (25 Euro pro Tag). Davon wurden noch 6.000 Euro Essensgeld abgezogen.[25][8]

Am 24. November 2010 setzte Witte sich per E-Mail mit Jörg Kachelmann in Verbindung, der zu dieser Zeit ebenfalls wegen mutmaßlicher Vergewaltigung angeklagt war und im Kachelmann-Prozess vor Gericht stand. Witte berichtete von seinem Fall und riet Kachelmann, seinen Anwalt Reinhard Birkenstock gegen Johann Schwenn auszutauschen. Kachelmann folgte dem Ratschlag[12] und wurde später ebenfalls freigesprochen.[26]

Bei einem Fernsehauftritt Anfang 2015 sagte Ralf Witte, er werde wegen des erlittenen Unrechts gerichtlich klagen und dabei nicht aufgeben. Sein Anwalt sagte laut Witte damals: „Das wird noch zehn Jahre dauern, bis wir damit durch sind.“ Witte sagte, es sei ihm unmöglich, wieder arbeiten zu gehen, weil er sich immer noch jeden Tag mit diesem belastenden „Kram“ auseinandersetzen müsse.[27]

Im Jahr 2019 musste Ralf Witte wegen seiner Angstzustände noch immer therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.[23] Um seine verstörenden Erfahrungen zu verarbeiten, hat er ein Buch geschrieben,[23] in dem er die Mängel der Justiz im Umgang mit seinem Fall analysiert, das er aber noch nicht veröffentlicht hat.[21] Auf seiner persönlichen Website zog er folgende Bilanz:

„Ich war unschuldig, aber das Landgericht Hannover hat die erfundenen Geschichten eines Mädchens geglaubt. Meine Unschuldsbeteuerungen und die Argumente meines Anwalts hätten das Gericht überzeugen müssen, aber dieses hatte einen absoluten Verurteilungswillen. Natürlich kann man nicht jedes Verbrechen aufklären, doch in unserem Fall hätte man ganz schnell der Wahrheit auf die Spur kommen können, wenn man es nur gewollt hätte. Unser Fall handelt aber vielmehr von dem Unrecht, das man mir und meinem Mitangeklagten unnötigerweise angetan hat! Die Zweite Jugendkammer des Landgerichts und die Staatsanwaltschaft Hannover hätten erkennen müssen, dass diese Vorwürfe völlig aus der Luft gegriffen waren. […] Zwei unschuldige Männer haben sie für viele Jahre ins Gefängnis gesteckt, weil sie einer Lügnerin glaubten. Ich möchte heute den Menschen danken, die an mich geglaubt haben […]“[9]

Siehe auch

Justizirrtum um Horst Arnold
Justizirrtum um Thomas Ewers
Justizirrtümer um Adolf S. und Bernhard M.

Literatur

Thomas Darnstädt: Der Richter und sein Opfer: Wenn die Justiz sich irrt. Piper, München 2013 ISBN 978-3-492-05558-1, S. 129–139.

Weblinks

Internetauftritt von Ralf Witte

Videos bei YouTube

Ralf Witte und sein Anwalt Johann Schwenn bei Markus Lanz, ZDF, 31. Mai 2011 (11:11 Min.)
Der Fall Ralf Witte bei ML Mona Lisa, ZDF, 27. August 2011 (5:52 Min.)
Der Fall Ralf Witte bei Menschen bei Maischberger, ARD, 27. Januar 2015 (15:43 Min.)
Sendung zum Fall Ralf Witte bei Planet Wissen, WDR, 2016 (58:06 Min.)

Einzelnachweise

Landeszeitung Lüneburg: „Die Kontrollinstanzen haben versagt“ – Anwalt Schwenn will Hannoveraner Justiz für Fehlurteil im Missbrauchsprozess zur Verantwortung ziehen. presseportal.de, 16. September 2010.
Landeszeitung Lüneburg: Fragen und Stellungnahmen von Landgericht und Staatsanwaltschaft Hannover zu den Vorwürfen der Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung. presseportal.de, 16. September 2010.
Vgl. Interview mit Johann Schwenn in der Landeszeitung Lüneburg presseportal.de, 16. September 2010. Der Anwalt Schwenn benennt einerseits die beiden Fälle getrennt: „Die Fälle Witte und Wulfhorst sind Fall vier und fünf allein in meiner Praxis …“, andererseits spricht er fünfmal zusammenfassend vom „Fall Witte/Wulfhorst“ bzw. von der „Sache Witte/Wulfhorst“.
Skript zur Panorama-Sendung vom 23. September 2010 zum Thema Vergewaltigung: Fünf Jahre unschuldig im Knast (PDF).
Bis zum Freispruch von Karl-Heinz Wulfhorst im Jahr 2010 wurde sein Nachname bzw. der Nachname seiner Tochter in den Medien abgekürzt als W. angegeben.
Aussagen von Ralf Witte in der ARD-Sendung Menschen bei Maischberger vom 27. Januar 2015, siehe Ausschnitt bei YouTube.
Tobias Morchner: Fünf Jahre unschuldig im Gefängnis?, Hannoversche Allgemeine, 24. Juni 2009.
Thilo Schmidt: Zum Umgang mit Vergewaltigungsvorwürfen: Aussage gegen Aussage deutschlandfunkkultur.de, 13. Februar 2017.
Homepage von Ralf Witte, abgerufen am 12. Juni 2020.
Aussagen von Ralf Witte in der ARD-Sendung Menschen bei Maischberger vom 27. Januar 2015, siehe Ausschnitt bei YouTube, hier 4:50 bis 6:20.
Kein Kachelmann, kein Wulff, aber Pechstein Mitteldeutsche Zeitung, 28. Januar 2015.
Sabine Rückert: Anklage wegen Vergewaltigung: Schlacht um Kachelmann. In: Die Zeit. 20. Dezember 2010, archiviert vom Original am 30. Juni 2013; abgerufen am 12. März 2019.
Aussage von Ralf Witte in der WDR-Sendung Planet Wissen, 2016, siehe Video bei YouTube, hier 8:24 bis 8:30.
Aussage von Ralf Witte in der WDR-Sendung Planet Wissen, 2016, siehe Video bei YouTube, hier 7:46 bis 8:30.
Fünf Jahre Knast: Staatsanwaltschaft verschweigt entlastendes Material, Beschreibung zur Panorama-Sendung vom 25. Juni 2009, NDR.
Unschuldig im Gefängnis: Freispruch nach fünf Jahren Haft haz.de, 8. September 2010.
Vergewaltigung: Fünf Jahre unschuldig im Knast, Panorama, NDR, 23. September 2010, Ausschnitt der Sendung auf YouTube (Länge 07:27 Min.), Skript zur Sendung als PDF-Datei.
Das soll Recht sein? NDR, TV-Dokumentation in der ARD-Themenwoche „Gerechtigkeit“, 12. November 2018.
Aussagen von Ralf Witte in der WDR-Sendung Planet Wissen, 2016, siehe Video bei YouTube, hier 25:11 bis 26:55.
Aussagen von Sandra Maischberger und Ralf Witte in der ARD-Sendung Menschen bei Maischberger vom 27. Januar 2015, siehe Ausschnitt bei YouTube, hier 10:50 bis 11:08.
Über mich justizopferralfwitte.de, abgerufen am 12. Juni 2020.
Gutachter: Die heimlichen Richter Panorama, NDR, 31. Oktober 2013, Skript zur Sendung als PDF-Datei.
5 ½ Jahre zu Unrecht im Gefängnis: Rückblick auf einen Vortragsabend mit Ralf Witte Juristische Fakultät der Universität Hannover, 28. Januar 2019. (Das Datum des Vortragsabends war der 14. Januar 2019, die Jahresangabe 2018 im Artikel ist ein Versehen.)
Aussage von Sandra Maischberger und Ralf Witte in der ARD-Sendung Menschen bei Maischberger vom 27. Januar 2015, siehe Ausschnitt bei YouTube, hier 12:23 bis 12:26.
Hannah Beitzer: Die Hölle sind die anderen, Süddeutsche Zeitung, 28. Januar 2015.
Freispruch für Kachelmann in: Spiegel Online, 31. Mai 2011. Abgerufen am 1. Oktober 2013
Aussagen von Ralf Witte in der ARD-Sendung Menschen bei Maischberger vom 27. Januar 2015, siehe Ausschnitt bei YouTube, hier 15:08 bis 15:36.

https://de.wikipedia.org/wiki/Justizirrtum_um_Ralf_Witte

 

 

 


 

 

 

Berufung verworfen

Aussagen des Opfers wurde vollständig Glauben geschenkt

VON ANDREAS BEHLING, 12.10.2008

DESSAU/SCHORTEWITZ/MZ. "In bestimmten Situationen - nämlich, wenn er eine sexuelle Annäherung anstrebt - verliert der Angeklagte nach unserer Überzeugung die Kontrolle." Jörg Engelhard, Vorsitzender Richter der 7. Strafkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau, und seine beiden Schöffen hatten keinen Zweifel daran, dass dies auch im Sommer 1992 der Fall war.

Kurz vor oder kurz nach dem Einschulungstermin habe der Schortewitzer die Freundschaft zwischen seiner Tochter und einem Mädchen aus der Nachbarschaft ausgenutzt, um sich zwei Mal an dem Kind zu vergehen. Das Mädchen war damals knapp sechs Jahre alt. In der für diese Taten typischen Eins-zu-eins-Situation, wo sich die Aussagen der zwei beteiligten Menschen immer diametral gegenüberstehen, seien die Ausführungen der Geschädigten für die Kammer maßgeblich gewesen, unterstrich der Vorsitzende.

Die heute 23-jährige Frau habe in ihrer Beschreibung der Geschehnisse weder einen Verfolgungseifer erkennen lassen noch zu schillernden Ausmalungen geneigt. Wäre es ihr um Rache oder um ein überbordendes Geltungsbedürfnis gegangen, hätte sie die Vorfälle noch viel dramatischer ausschmücken können, fand Engelhard. Darüber hinaus gehe die Berufungsinstanz nicht davon aus, dass die beiden früheren Freunde, denen die junge Frau Jahre später die sie bedrückenden Ereignisse offenbarte, für das Opfer die Unwahrheit sagten.

Folglich stand für die Kammer fest, dass sich der mittlerweile 45 Jahre alte Schortewitzer des sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig machte. Die Berufung des Angeklagten verwerfend, beließ sie es somit bei der vom Amtsgericht Köthen verhängten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten. Zuvor hatte sich Staatsanwalt Frank Pesselt befremdet über die Bemerkung der Verteidigung gezeigt, die Geschädigte habe keinerlei Details der Übergriffe vortragen können.

Dies zu verlangen, so der Anklagevertreter, sei ja wohl "vollkommen unrealistisch". Man dürfe nicht vergessen, dass Ereignisse beleuchtet wurden, die nunmehr 16 Jahre zurückliegen. Vor dem Hintergrund habe es ihn weitaus mehr gewundert, wie präzise einige Zeugen, die dem Lager des Angeklagten zuzurechnen waren, noch räumliche Verhältnisse und zeitliche Abläufe vor Augen hatten. Deren Auftritte, zumal gepaart mit herabwürdigenden Bemerkungen zur Person der Geschädigten, hätten bei ihm zu dem Eindruck geführt, es mit dressierten Zeugen zu tun zu haben. Wie spontan und manchmal auch ungefragt die antworteten, dies sei schon "hart an der Grenze" gewesen.

Verteidigerin Kathrin Najork kündigte nach dem Prozess an, mit Pesselt über diesen unterschwelligen Vorwurf der Rechtsbeugung sehr ernsthaft sprechen zu wollen.

In ihrem knapp halbstündigen Plädoyer hatte sie derweil die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es seinerzeit sehr wohl sexuelle Missbrauchshandlungen gab, diese aber von einem anderen Täter verübt wurden. Dessen Bild projiziere das Opfer nun auf ihren Mandanten. "Die Umstände ließen sie glauben, dass er es war", formulierte die Anwältin.

"Äußerst bedenklich" nannte es Frau Najork, dass kein genauer Tatzeitpunkt feststellbar war. Während sich die Geschädigte explizit darauf festlegte, alles habe sich zugetragen, als sie noch den Kindergarten besuchte, stand die von ihr wahrgenommene Tafel erst nach der Einschulung im Kinderzimmer der Tochter des Angeklagten. Überhaupt keinen Beweiswert maß die Verteidigerin den Aussagen der ehemaligen Freunde bei. Die seien derart unergiebig gewesen, dass man sich fragen müsse, was das für Beziehungen waren, wenn Missbrauchsvorwürfe in den Raum geworfen, aber keine weiteren Nachforschungen dazu angestellt werden.

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es die Berufungsinstanz ablehnte, die Geschädigte von einem Rechtspsychologen hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit begutachten zu lassen, gab die Verteidigerin bereits in ihrem Schlussvortrag klar zu erkennen, auf das Urteil mit einer Revision zu reagieren. "Wir werden sehen, was das Oberlandesgericht dazu sagt", meinte die Juristin, die zu ahnen schien, dass ihr Antrag auf Freispruch am Ende der umfassenden Beratung der Kammer scheitern würde.

http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1223303381573

 

 

 

Kommentar Väternotruf:

"Aussagen des Opfers wurde vollständig Glauben geschenkt", das ist nun eine unsinnige Überschrift, denn bevor eine Verurteilung nicht rechtskräftig ist, gilt ein angeklagter als unschuldig, folglich gibt es im strafrechtlichen Sinne auch noch kein Opfer. Korrekt müsste es daher heißen: "23-jähriger Frau wurde vollständig Glauben geschenkt".

 

 


 

 

 

 

 

Gutachter

Der Wahrheit näher rücken

Wie Gutachter Täter- und Opferaussagen beurteilen.

Es leuchtet ein, dass Straftäter nicht immer die Wahrheit sagen. Doch auch Unschuldige erfinden nicht selten phantasievolle Geschichten. Zum Beispiel, weil das, was wirklich geschehen ist, so skurril klingt, dass sie Angst haben, man glaube ihnen nicht. Aber es kommt auch vor, dass Unschuldige Geständnisse ablegen oder Geständige bei der Schilderung des Tathergangs lügen.

Aussagen von Angeklagten und Zeugen auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen, ist Aufgabe von Psychiatern und Psychologen. Sie müssen Richtern brauchbare Gutachten darüber liefern, ob Täter – aber auch Opfer – die Wahrheit sagen. Wie schwierig das sein kann, wurde auf der 12. Berliner Junitagung deutlich, zu der das Institut für Forensische Psychiatrie der Charité eingeladen hatte.

Am Fall des Ende September 2001 im Saarland im Alter von fünf Jahren verschwundenen Pascal erläuterte Charité- Psychologe Max Steller das Problem von falschen Geständnissen. Zwölf Angeklagte, darunter vier Frauen, wurden in diesem Fall beschuldigt, den Jungen mehrfach missbraucht und schließlich getötet zu haben. Die zum Teil geistig behinderten und alkoholkranken Angeklagten verstrickten sich immer wieder in Widersprüche, gaben Geständnisse ab und widerriefen sie. Im September 2007 wurden sie nach einem dreijährigen Prozess aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

„Es kommt vor, dass Menschen Geständnisse ablegen, um sich wichtig zu machen“, erläuterte Steller. Andere hielten dagegen dem Stress in der Verhörsituation nicht stand und würden sagen, was die Polizisten „hören wollen“.

Doch nicht nur mutmaßliche Täter lügen. Manche Menschen geben sich auch zu Unrecht als Opfer aus. „Denn daraus leiten sich Ansprüche ab, etwa auf Fürsorge“, sagte Hans Stoffels, Psychiater an der Berliner Schlossparkklinik. Häufig glauben Lügner selbst, was sie sagen – vor allem, wenn das geschilderte Erlebnis schon Jahre zurückliegt. „Das Gedächtnis ist kein Speicher, in dem Information eingebrannt ist“, sagte Stoffels. Die Erinnerung sei ein fortlaufender Prozess, der auch von der gegenwärtigen Bewertung eines Erlebnisses aus der Vergangenheit beeinflusst werde.

Dass auch Polizeibeamte und Gutachter nicht frei von ihrer persönlichen Bewertung sind, machte der Kieler Psychologe Günter Köhnken deutlich. „Meistens haben sie ja einen Verdacht – zum Beispiel, dass ein Kind sexuell missbraucht wurde“, sagte Köhnken. „Und dann suchen sie gezielt nach Anhaltspunkten, die ihre Hypothese bestätigen.“ Dabei werde die Gegenprobe, ob es auch andere Ursachen für diesen „Beweis“ geben könnte, häufig vernachlässigt.

In ähnlicher Weise könne es zu Suggestivfragen in Verhören kommen. Selbst wenn die Polizisten gar nicht die Absicht hätten, den Befragten zu manipulieren. Sogar für Psychologen, die bei ihrer Begutachtung auch prüfen, unter welchen Umständen Aussagen zustande gekommen sind, sei dies häufig nicht zu erkennen.

„Die ganze Wahrheit lässt sich nie ergründen“, sagte der Berliner Psychologe Max Steller. „Doch für die Praxis vor Gericht müssen wir ihr zumindest so nah wie möglich kommen.“

 

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 16.06.2008)

www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Gutachter;art304,2551838

 

 

 

 


 

Limburg: Sado-Paar quälte viele Kinder

Mädchen-Doppelmord in Limburg: Auch Ehefrau gesteht

Und keiner glaubte den Kindern: In diesem Haus in Girkenroth (Westerwaldkreis) wurden vermutlich nicht nur die beiden Mädchen Jasmin und Yvonne getötet, sondern auch die leiblichen Kinder von der 42 Jahre alten Mutter Monika K. von ihr und deren Mann Lutz sadistisch missbraucht.

Limburg/Koblenz - Gegen das mutmaßlich mörderische Sadisten-Paar aus dem Westerwald laufen bereits seit sechs Jahren einschlägige staatsanwaltschaftliche Ermittlungen.

Entsprechende Informationen der "Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch" bestätigten am Dienstag die Staatsanwaltschaften in Limburg und Koblenz. Das unter dem dringenden Verdacht des Doppelmords an zwei 16-jährigen Mädchen aus Limburg stehende Ehepaar soll den Ermittlungen zufolge mindestens drei weitere Mädchen sadistisch gequält haben.

Auch die eigene Tochter missbraucht

Der 41 Jahre alte Maurer Lutz K. aus Girkenroth (Westerwaldkreis) und seine 42 Jahre alte Ehefrau Monika hätten bereits mehrere Verbrechen gestanden, sagte der Limburger Staatsanwalt Hans-Joachim Herrchen. Neben der leiblichen, heute 16 Jahre alten Tochter der Ehefrau und den Limburger Opfern sollen zwei andere, noch nicht vernommene Mädchen Opfer des Sadisten-Paares geworden sein. Auch die beiden Söhne der Frau aus erster Ehe sind möglicherweise missbraucht worden.

Leiblicher Vater zeigte Ex-Frau schon 1995 in Koblenz an

Als erstes hatte der Ex-Mann der beschuldigten Frau im Jahr 1995 bei der Staatsanwaltschaft Koblenz Anzeige gegen das Paar wegen sexuellen Missbrauchs aller drei Kinder aus der ersten Ehe, zwei Jungen und ein Mädchen, erhoben. Wie auch in einem zweiten, von der Tochter selbst angestrengten Verfahren aus dem Jahr 2000 stand Aussage gegen Aussage, erklärte der Leitende Oberstaatsanwalt Erich Jung auf Anfrage. In beiden Fällen hätten Gutachter der Ruhr- Universität Bochum die Glaubwürdigkeit der Kinder bezweifelt. Beide Ermittlungsverfahren seien daraufhin eingestellt worden.

Staatsanwalt Jung: Gutachter hielten Kinder für unglaubwürdig

Die erfahrene Dezernentin habe aus seiner heutigen Sicht keine Fehler gemacht, erklärte Jung. Seine Behörde verlasse sich auch nicht auf einige wenige Haus-Gutachter, sondern pflege "einen guten Mix". Auf deren Expertisen sei man in dem schwierigen Spannungsfeld des sexuellen Missbrauchs aber "mehr oder weniger" angewiesen. Er habe viel Verständnis für die Empörung der Angehörigen, aber auch die Mittel der Justiz zur Wahrheitsfindung seien begrenzt.

26.09.2001

http://www.rz-online.com/on/01/09/26/topnews/limburg.html

 

 


 

 

 

"Zum Standard der Glaubwürdigkeitsbegutachtung"

J. Martinius

Aus Institut und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München, Klinikum Innenstadt (Komm. Direktor: Prof. Dr. J. Martinius)

 

Zusammenfassung: Die Begutachtung der Glaubwürdigkeit kindlicher Zeugen ist Aufgabe der Psychologie, bei Vorliegen seelischer Störungen wird jedoch ärztliche, d.h. kinder- und jugendpsychiatrische Begutachtung notwendig. Sie hat Qualitätsanforderungen zu genügen, die Exploration, Untersuchung und Analyse der Befunde betreffen. Wichtige Neuerungen sind das Vorgehen nach einer umfassenden Systematik, das Vermeiden suggestiver >Aufdeckungsarbeit< und die Anwendung der kriterienorientierten Inhaltsanalyse.

Anhand einer Schadenersatzklage wegen fehlerhafter Begutachtung im Zusammenhang mit dem Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs wird zum Standard der Glaubwürdigkeitsbegutachtung Stellung genommen.

Schlüsselwörter: Begutachtung der Glaubwürdigkeit, kindliche Aussagen, Qualitätsstandards, kriterienorientierte Inhaltsanalyse

 

"Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie". 27 (2). 1999, S. 121—124

 

 


 

 

"Aussagepsychologie vor Gericht - Methodik und Probleme von Glaubwürdigkeitsgutachten mit Hinweisen auf die Wormser Missbrauchsprozesse"

Max Steller

in: "Recht und Psychiatrie", 1998, 16. Jahrgang, S. 11-18

Anschrift des Autors: Max Steller, Limonenstraße 27, 12203 Berlin

 

 

 


 

 

 

BGH 1 StR 618/96 - Urteil vom 30.Juli 1999 (Landgericht Ansbach)

Sachverständige; Sexueller Missbrauch eines Kindes; Glaubhaftigkeitsgutachten; Darstellung eines Gutachtens im Urteil;

 

§ 244 Abs. 4 Satz 2 ZPO

 

Leitsätze:

1. Wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten). (BGHSt)

2. ...

3. ...

 

 

 


 

 

 

Fachleute zum Thema Glaubhaftigkeit

 

Prof. Dr. Udo Undeutsch

Psychologisches Institut, Universität Köln

Polygraphentest (Lügentestdetektor)

 

Prof. Dr. Wegener

Prof. Dr. Steller

Prof. Dr. Köhnken

Dr. Volbert

Prof. Szewczyk

 

 

 


 

 

Links

 

Aussagepsychologie vor Gericht

Methodik und Probleme von Glaubwürdigkeitsgutachten mit Hinweisen auf die Wormser Mißbrauchsprozesse

von Prof. Dr. Max Steller

www.kinderprojekte.de/kffk/aussag.html

 

 

 


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