Kollateralschaden


 

 

Verstecktes Mädchen

Lübbenow: Jennifer könnte ins Elternhaus zurückkehren

Das lange versteckt gehaltene behinderte Mädchen aus Lübbenow vermisst in der Kinderklinik ihre bis vor zwei Wochen einzigen Bezugspersonen. Eine Rückkehr der 13-Jährigen zu ihrer Familie ist im Gespräch.

3.8.2009 0:00 Uhr

Lübbenow – Der Fall des jahrelang von ihren Eltern vor der Öffentlichkeit versteckten Mädchens Jennifer aus Lübbenow in der Uckermark könnte eine überraschende Wende nehmen. Möglicherweise wird die 13-Jährige bald zu ihrer Familie zurückkehren. Zunächst würden die Umstände im Elternhaus eingehend geprüft, hieß es von der zuständigen Verwaltung des Landkreises. Sie bestätigte, dass die Eltern ihre geistig und körperlich behinderte Tochter regelmäßig in der Klinik besuchen dürften.

Offenbar vermisst das Mädchen ihre bis vor zwei Wochen einzigen Bezugspersonen. Wie berichtet, hatte am 15. Juli eine Mitarbeiterin des Jugendamtes in Begleitung von Polizisten das Haus am Rande des kleinen Lübbenow aufgesucht. Vorausgegangen war eine anonyme Anzeige, wonach die Eltern ein Kind verstecken würden. Das Jugendamt ordnete die Überstellung des Kindes in die Kinderklinik Eberswalde an, wo es betreut wird.

Umgehend nahm die Staatsanwaltschaft Neuruppin Ermittlungen wegen des Verdachts der Verletzung der Fürsorgepflicht gegen die Eltern auf. Das Kind sei in einem „verwahrlosten Zustand“ aufgefunden worden, hieß es. Die elf- und 16-jährigen Geschwister von Jennifer befinden sich dagegen weiterhin bei ihren Eltern. Aus Furcht vor der Belagerung durch die Medien hat sich die Familie an einen anderen Ort geflüchtet.

Das Kind hat in seinem Leben nie einen Arzt gesehen. Jedenfalls fand die zuständige Kreisverwaltung keine Hinweise darauf. Vor neun Jahren war die Familie aus Berlin in die Abgeschiedenheit der Uckermark gezogen. Wie Dorfbewohner berichteten, hatte sich die Familie weitgehend isoliert vom übrigen Leben gehalten. Einige Personen wollten aber in den vergangenen Jahren ein Mädchen am Fenster des Hauses gesehen haben. Niemand fragte jedoch ernsthaft nach. Jetzt soll Jennifer nach der Klinikentlassung in einem Therapiezentrum für Behinderte betreut werden. Ste.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 03.08.2009)

http://www.tagesspiegel.de/berlin/Brandenburg-Luebbenow-Vernachlaessigung;art128,2863139

 

 

Kommentar Väternotruf:

Man fragt sich hier, ob der Schaden, der durch die abrupte Herausnahme des Kindes aus dem elterlichen Haushalt  nicht größer ist, als der vermeintliche Nutzen.

Eine akute Gefährdung des Kindes bei den Eltern, die eine Inobhutnahme des Kindes gerechtfertigt hätte, hat soweit zu lesen sicher nicht bestanden. Womöglich wollte man auf Jugendamtsseite aber Aktivität und Entschlossenheit demonstrieren, Kollateralschäden sind dabei wohl in Kauf zu nehmen.

 

 

 


 

 

Tochter neun Jahre lang versteckt

Keiner Behörde fiel es auf, dass das Kind nicht zur Schule ging. Jetzt ermittelt der Staatsanwalt

Jens Blankennagel

LÜBBENOW. Versteckt, verheimlicht, fast vergessen: Ein 13 Jahre altes Mädchen aus dem kleinen Uckermarkdorf Lübbenow hat in seinem Leben noch nie eine Schule besucht. Und keiner Behörde fiel auf, dass das körperlich und geistig behinderte Kind seit Jahren nicht mehr gesehen wurde, weil es von seinen Eltern eingesperrt wurde. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft Neuruppin. Experten müssen nun klären, wie schwer das Mädchen anfangs behindert war und wie stark die massive Abschottung vor allem seine geistige Behinderung verstärkt hat.

Die Eltern haben drei Kinder. Zwei gehen ordnungsgemäß zur Schule, sie gelten als unauffällig. Aber die 13-jährige Tochter wurde von den Eltern schon lange nicht aus dem Haus gelassen. "Das Kind wurde vor zwei Jahren zum letzten Mal auf dem Hof der Eltern gesehen", sagte gestern eine Nachbarin. "Alle wussten, dass das Mädchen behindert ist. Aber wir dachten, dass die Behörden informiert sind."

Nachbar alarmiert Polizei

Die Behörden haben aber erst jetzt eingegriffen. Nach Jahren des Schweigens hatte ein Nachbar die Polizei informiert und damit das Martyrium des Mädchens beendet. "Unser Kreisjugendamt hat das Kind sofort aus der Familie genommen und in eine Klinik gebracht", sagte die Sprecherin der Kreisverwaltung, Ramona Fischer. Äußerlich habe es keine Misshandlungsspuren gegeben.

"Wir ermitteln gegen die Eltern", sagte Jürgen Schiermeyer von der Staatsanwaltschaft Neuruppin. "Die Eltern sind verdächtig, die Fürsorge- und Erziehungspflicht gegenüber der 13-jährigen Tochter verletzt zu haben und sie dadurch körperlich und geistig geschädigt zu haben." Wegen dieser Straftat drohen bis zu drei Jahren Haft.

Derzeit wird davon ausgegangen, dass die Eltern ihre Tochter versteckt haben, weil sie sich wegen deren Behinderung geschämt haben. Die beiden Geschwister sollen, wie es gestern hieß, vorerst in der Familie bleiben.

Der aktuelle Vorfall weist starke Parallelen zum Fall Dennis auf, der bundesweit für Aufsehen sorgte. Der Sechsjährige war im Dezember 2001 völlig entkräftet verhungert. Zehn Monate vorher hätte er zur Schuleingangsuntersuchung gemusst. Doch jahrelang fragte kein Amt ernsthaft nach. Die Leiche, die die Mutter in einer Kühltruhe versteckte, fand die Polizei erst 2004.

"Nach diesem Fall wurde die Grundschulverordnung verschärft", sagte Karsten Friedel vom Bildungsministerium. Eindeutig präzisiert wurde, wann die Eltern - nun auch mit dem Kind - zur Schulanmeldung erscheinen müssen. Wann die Behörden eingreifen müssen, wenn die Eltern nicht reagieren und wann Bußgeldverfahren eingeleitet werden, wann notfalls die Polizei eingeschaltet wird. "Wenn sich alle an die eindeutig formulierten Vorschriften halten, kann so ein Fall Dennis oder der aktuelle Fall nicht passieren", sagte er. "Die Staatsanwaltschaft prüft nun, ob Behörden falsch gehandelt haben."

Glücklicherweise gebe es recht wenige Fälle von Kindsverwahrlosung, sagte Friedel. Die Zahlen seien seit Jahren stabil. "Pro Jahr nehmen die Jugendämter etwa 35 von 10 000 Kindern aus ihren Familien." Dazu gehören aber auch Fälle, bei denen Kinder selbst im Streit aus den Familien geflüchtet sind.

Dass die Eltern in Lübbenow lange Zeit durch die eigentlich engmaschige soziale Kontrolle der Nachbarn in einem Dorf fielen, liegt vielleicht auch daran, dass die Familie erst vor neun Jahren aus Berlin zuzog. "Sie leben am Dorfrand und haben nie den Kontakt gesucht", sagte Henry Bergmann von der örtlichen Initiative Bürgerstiftung. "Aber immerhin hat ein Nachbar reagiert und Anzeige erstattet."

Wie so oft in jüngster Zeit. Nach Angaben des Landeskriminalamtes (LKA) wurden 2007 insgesamt 117 Fälle von Verletzung der Fürsorgepflicht polizeilich registriert. Im Jahr 2008 waren es 237 Fälle. "Der relativ hohe Anstieg der Fälle ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine verstärkte Anzeigebereitschaft von Behörden, Nachbarn und Verwandten zurückzuführen", sagte LKA-Sprecher Toralf Reinhardt.

29.07.2009

http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2009/0729/brandenburg/0020/index.html

 

 

 

 


zurück