Niemandtochter

 

 

 

Sibylle Plogstedt "Niemandstochter - Auf der Suche nach dem Vater"

 

 

Das Bild

Mit acht Jahren fand ich sein Bild. Auf mich gerichtet, berührten seine Augen mich, hielten mich fest. Wie hypnotisiert saß ich auf dem Teppich im Wohnzimmer meiner Großmutter, das Foto vor mir auf dem Fußboden. Er strahlte so etwas Zartes aus, das mich anzog. Meine Mutter war wütend, verletzt. Ich sollte nicht heimlich in ihrem Schrank suchen. Kurz faßte sie sich, um ernst mit mir zu reden: »Das ist dein Vater. Das Foto habe ich für dich aufgehoben, du bekommst es, wenn du groß bist. Damit du einmal siehst, wie dein Vater ausgesehen hat.« Meine Mutter nahm das Bild an sich, die graubraune Pappe verschlang es, der Bindfaden schnürte ein wie ins Fleisch. »Jetzt brauchst du das ja nicht mehr«, sagte sie, »jetzt sind wir ja eine neue Familie, du, der Vati und ich.«

"Niemandstochter. Auf der Suche nach dem Vater", Sibylle Plogstedt, Piper 1991, ISBN 3-492-11330-3, z.Z. vergriffen

 

 

 


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