Pflegeeltern
Misshandlung
Warum unternahm das Jugendamt nichts?
VON SILVIA ZÖLLER, 21.09.11, 19:43h, aktualisiert 21.09.11, 22:00h
Landgericht Halle
Das wegen Misshandlung von Pflegekindern angeklagte Ehepaar (links und rechts) mit seinen Verteidigern im Landgericht Halle. (FOTO: ZB)
Halle (Saale)/MZ. Kopfschütteln am Mittwoch im Landgericht Halle: Obwohl das Jugendamt des Burgenlandkreises immer wieder Hinweise bekam, dass etwas mit einem Geschwisterpaar in einer Pflegefamilie nicht stimmt, passierte jahrelang nichts. Mit hilflosen Aussagen räumte die entsprechende Sachbearbeiterin dies im Prozess ein.
In der Verhandlung muss sich ein Ehepaar aus dem Burgenlandkreis wegen einer Vielzahl von körperlichen und sexuellen Misshandlungen an den beiden Kindern verantworten - die Opfer sind heute 21 und 17 Jahre alt. Zwischen den Jahren 2000 und 2006 soll der Pflegevater den Jungen mehrfach bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und geprügelt haben und sich zweimal an dem Mädchen vergangen haben.
Der Mutter wird vorgeworfen, dass sie dem Mädchen ein heißes Bügeleisen auf die Hand gedrückt haben soll. Zwei Tage lang sollen die Kinder laut Anklage in den Keller eingesperrt worden sein - ohne Essen und Trinken. Zum Prozessauftakt hatte das Ehepaar sämtliche Vorwürfe bestritten.
Wie beim Verhandlungstermin am Mittwoch zu erfahren war, hatte das Jugendamt ab 2004 massiv Hinweise über Probleme in der Pflegefamilie erhalten, doch immer Ausflüchte des Paares akzeptiert. So wiesen anonyme Anrufer mehrfach darauf hin, dass die Kinder vernachlässigt würden. "Das darf man nicht überbewerten, weil es immer Neider gibt, die glauben, dass Pflegefamilien nur das Geld kassieren wollen", sagte die Sachbearbeiterin. Auch als sich die Schulleitung an die Behörde wandte, weil das Mädchen zahlreiche blaue Flecken hatte, glaubte die Jugendamtsmitarbeiterin die Erklärung: Danach soll sich das Kind beim Spielen gestoßen haben. Auch auf Hinweise der Schule, dass keine Arbeitsmaterialien mitgebracht wurden und die Leistungen absackten, passierte nichts.
Denn die Pflegefamilie hatte Einladungen zu Gesprächen wegen dieser Probleme ab 2004 fast gar nicht mehr wahrgenommen. "Im Februar 2004 hatten wir sie zu einem Gespräch geladen und im August noch mal gemahnt", beschrieb die Jugendamts-Mitarbeiterin die geringe Intensität des Schriftverkehrs mit den Pflegeeltern. Angeblich hätten diese die Briefe nie erhalten, weil das Mädchen - das als sehr schüchtern beschrieben wurde - diese abgefangen habe. Bis 2006 zog sich so der fast nicht vorhandene Kontakt zum Jugendamt hin - dann lief das Mädchen von der Familie weg und kam wieder in ein Heim. Auch ihr Bruder war bereits 2004 - nach seinen Angaben - freiwillig ins Heim zurückgegangen.
"Wieso dauerte das alles so lange?", machte der Vorsitzende Richter Jan Stengel seinem Ärger und Unverständnis Luft, "und wann hört das Jugendamt auf, nette Briefe zu schreiben?" Dem Jugendamt seien die Hände gebunden gewesen, versuchte die Mitarbeiterin eine Erklärung. Denn das Mädchen habe immer wieder gesagt, dass es in der Familie bleiben möchte. Der Prozess wird fortgesetzt.
http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1315819395164
Pflegekinder
Hohe Anforderungen, strenge Kontrollen
erstellt 01.09.11, 20:22h
Halle (Saale)/MZ. 2184 Kinder sind in Sachsen-Anhalt 2009 von Pflegeeltern betreut worden. Wenn es möglich ist, werden Geschwister gemeinsam in Familien untergebracht - so dass die Zahl der Pflegefamilien darunter liegt: 2009 haben 1351 Familien Pflegekinder aufgenommen.
Um die Erlaubnis für die Betreuung von Pflegekindern zu bekommen, müssen Eltern ein regelmäßiges Einkommen und genügend Wohnraum vorweisen. Über die Jugendämter erhalten sie ein Vorbereitungsseminar. Mitarbeiter des Jugendamtes statten ihnen zusätzlich einen Hausbesuch ab. Wenn alle Auflagen erfüllt sind, bestätigt das Jugendamt die Bewerbung. Betreuen Eltern dann ein Pflegekind, erhalten sie finanzielle Unterstützung. Das Pflegegeld ist gestaffelt und steigt mit zunehmendem Alter der Kinder. Der Betrag liegt heute zwischen 640 Euro und 808 Euro.
Bad Honnef: Gefesselt und misshandelt von den eigenen Pflegeeltern
Bad Honnef Die neunjährige Anna ist nach Aussage ihres Pflegevaters über Monate immer wieder mit Klebeband gefesselt worden: Nach offensichtlichen Misshandlungen mit Todesfolge des Mädchens aus Bad Honnef haben die Ermittler am Samstag Haftbefehl gegen die Pflegeeltern (beide 51) beantragt. dpa
Martyrium in der Pflegefamilie: Nach dem Tod der neunjährigen Anna hat der Pflegevater (51) im Polizeiverhör grausame Misshandlungen gestanden. Das Mädchen sei in den vergangenen drei Monaten immer wieder mit Klebeband gefesselt worden. Es habe sich um eine „Erziehungsmaßnahme“ gehandelt, wenn das Kind beim Essen oder Baden „bockig“ und aggressiv war, sagte der Mann nach einer Mitteilung von Staatsanwaltschaft und Polizei Bonn vom Samstag. Das Amtsgericht Bonn erließ Haftbefehl gegen die Pflegeeltern aus Bad Honnef. Auch die Frau (51) hat die Fesselungen zumindest teilweise eingeräumt.
Das Mädchen, das seit zwei Jahren bei dem Paar lebte, war mit zahlreichen Hämatomen am Donnerstagabend bewusstlos in der Badewanne gefunden worden und später im Krankenhaus gestorben. Die Obduktion ergab Tod durch Ertrinken. Der Haftbefehl lautet auf Körperverletzung mit Todesfolge, mehrfachen Missbrauch von Schutzbefohlenen und Freiheitsberaubung.
In ersten Befragungen hatten die Pflegeeltern von Selbstverletzungen und Stürzen des Kindes gesprochen und damit versucht, die vielen blauen Flecken zu erklären. Bei der Vernehmung am Samstag gestand der Pflegevater dann die schrecklichen Taten: Mehrfach sei Anna vorübergehend für einige Minuten mit dem Klebeband gefesselt worden, räumte der 51-Jährige ein, nachdem ihn die Ermittler mit Klebeband-Funden in der Wohnung konfrontiert hatten.
Zu solchen Fesselungen kam es auch am vergangenen Donnerstag, dem Tattag: Erst zum Essen und später zum Baden wurden Hände und Füße des Mädchens zusammengeklebt, wie Polizei und Staatsanwaltschaft weiter mitteilten. Als die Neunjährige in der Badewanne aufbegehrt habe, sei das Kind unter Wasser gedrückt worden. Die Pflegemutter bestritt nach Polizeiangaben jegliche Gewalt gegen das Kind im Bad. Als das Mädchen bewusstlos wurde, hätten die Pflegeeltern den Notarzt verständigt und versucht, das Kind wiederzubeleben.
Die Stadt Königswinter hatte bereits am Freitag eine interne Untersuchung eingeleitet. Ergebnisse würden frühestens in den kommenden Tagen erwartet, sagte ein Stadtsprecher am Sonntag. Die Ermittlungen würden in enger Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft geführt. Noch am Freitag hatte der Bürgermeister von Königswinter, Peter Wirtz, gesagt, dass es in der Vergangenheit keinen Anlass gegeben habe, das Kind aus der Pflegefamilie herauszunehmen.
25.07.2010 15:40 Uhr
http://www.ruhrnachrichten.de/nachrichten/region/hierundheute/heute/art94547,977788
Kommentar Väternotruf:
Da wurden wohl beide Augen doll zugedrückt in Königswinter. Kaum vorstellbar, dass die Lehrer an der Schule des Kindes nichts mitbekommen haben.
Da hätte man das Kind lieber in der Herkunftsfamilie lassen sollen. Aber das wollte man im Jugendamt Königswinter wohl nicht. Am Ende waschen wie gewohnt alle offiziellen Mitarbeiter ihre Hände in Unschuld, getreu dem Motto, wir sind die guten, die Bösen sitzen draussen.
WDR: Haftbefehle gegen Pflegeeltern der toten Anna erlassen
Mädchen hatte viele blaue Flecken
Haftbefehle gegen Pflegeeltern der toten Anna erlassen
Nach dem Tod der neunjährigen Anna aus Bad Honnef hat die Staatsanwaltschaft Bonn am Samstag (24.07.10) Haftbefehle gegen die Pfleegeeltern erlassen. Der Pflegevater hatte zuvor eingeräumt, dass seine Frau die Neunjährige in der Badewanne unter Wasser gedrückt habe.
Polizei sichert Spuren am Wohnhaus
Die Pflegeeltern waren am Freitag festgenommen worden, nachdem das Mädchen am Vorabend bewusstlos in der Badewanne gefunden und später in einer Klinik gestorben war. Der Körper der Neunjährigen wies zahlreiche Hämatome auf. Die Obduktion der Leiche hatte am Freitag Tod durch Ertrinken ergeben. Bei den Vernehmungen der Staatsanwaltschaft hat der Pflegevater inzwischen erklärt seine Frau habe das Mädchen am Donnerstagabend in der Badewanne unter Wasser gedrückt.
Zuvor sei die Neunjährige mit Klebeband an Händen und Füßen gefesselt worden. Als diese Fesselung gelöst worden sei, habe das Mädchen gegen die Eltern aufbegehrt. Die Pflegemutter habe es dann unter Wasser gedrückt und direkt anschließend Reanimationsmaßnahmen eingeleitet und den Notarzt verständigt. Die Pflegemutter hat in den Vernehmungen bisher jegliche Gewaltanwendung abgestritten. Allerdings stimmt die Spurenlage vor Ort mit der Aussage des Vaters überein.
Staatsanwaltschaft: Tod durch Ertrinken
Die beiden 51-jährigen Pflegeeltern hatten am Donnerstagabend laut Staatsanwaltschaft Hilfe gerufen, da das Kind in der Badewanne verunglückt sei. Sanitäter versuchten vergebens, die ohnmächtige Kleine zu retten. Die Pflegeeltern gaben an, das Mädchen neige dazu, sich selbst zu verletzen. Das konnte laut Staatsanwaltschaft durch medizinische Gutachten inzwischen auch bestätigt werden. Die Pflegeeltern erklärten weiter, die vielen gefundenen Hämatome habe sich das Kind selbst zugefügt, als es vom Hochparterre aus gesprungen und einige Treppenstufen hinabgefallen sei.
Bürgermeister kündigt Prüfung an
Das Mädchen war vom städtischen Jugendamt Königswinter an die Pflegefamilie im benachbarten Bad Honnef vermittelt worden und lebte dort seit zwei Jahren. Auch der Bürgermeister von Königswinter, Peter Wirtz (CDU), zeigt sich tief bestürzt. Er leitete eine verwaltungsinterne Untersuchung ein. Die Familie sei vom Jugendamt betreut worden, sogar von einem besonderen Fachdienst. Es habe bis zum Donnerstagabend keine Anlässe gegeben, das Kind aus der Familie herauszunehmen. Nach seinen bisherigen Erkenntnissen gebe es auch keine Hinweise auf Versäumnisse des Jugendamtes.
Stand: 24.07.2010, 17:03 Uhr
Link zum Video Tote Anna: Viele offene Fragen [Aktuelle Stunde] (2:21 min.):
http://www.wdr.de/mediathek/html/regional/2010/07/23/aktuelle-stunde-misshandlung.xml
Kind verhungert: Tödliche Ignoranz im Jugendamt
Bundesgerichtshof entscheidet heute über Mitverantwortung von Behörde
Von Catrin Barnsteiner und Michael Mielke
Ein Kind verhungert, zwei sind lebensgefährlich unterernährt. Die Pflegeeltern werden wegen Mordes verurteilt. Kontrolliert hatte sie das Jugendamt nicht. Dagegen klagt jetzt ein Opfer
Beutelsbach - Es gibt eine Geschichte über das Ende von Alexander: Kurz bevor das Kind starb, wollte es Leberwurstbrot essen. Und Milch aus der Babyflasche trinken. Es fror. Sein Pflegevater, ein angehender Waldorfpädagoge, soll sich zu ihm gelegt haben. Seine Pflegemutter machte sich Sorgen, ob Leberwurstbrot und Milch nicht vielleicht zuviel durcheinander für den Jungen wären. Wenige Stunden später war das Kind tot. Verhungert. Sein Bruder Alois und Andreas, ein weiteres Pflegekind, überlebten.
Andreas klagt gegen das Jugendamt, aber er wird vor dem Bundesgerichtshof nicht erscheinen. Es gibt nur Fotos, die im November 1997 von der Polizei gemacht wurden. Heute ist Andreas 15 Jahre alt, als er acht war, hatte er das Gesicht eines Greises und wog gerade mal 11,8 Kilogramm. Der Chefarzt der Kinderklinik in Waiblingen sagte damals, er habe "in der Bundesrepublik solche Kinder noch nicht gesehen. Haut und Knochen, eingesunkene Wangen, eingesunkene Gesäße." Er mußte an Bilder aus Somalia oder Biafra denken.
Der Kriminalfall im schwäbischen Beutelsbach, unweit von Stuttgart, ist nun sogar Thema eines Zivilsenats des Bundesgerichtshofs geworden - aber hinter diesem Fall stehen weitreichende Fragen: Wie weit soll die Kontrolle des Jugendamts bei Pflegefamilien gehen? Wieviel Kontrolle ist nötig, damit die Kinder sich als vollintegrierte Familienmitglieder entwickeln können, ohne ständig an ihre Besonderheit erinnert zu werden?
Professor Wolfgang Krüger, Sprecher des Bundesgerichtshofs, spricht von einem Präzedenzfall. Der Fall nun, das sind drei Jungen, die in einer Pflegefamilie lebten. Alexander, fünf Jahre alt, starb dort an Hunger. Sein Bruder Alois - er war sechs Jahre alt und wog nur zehn Kilogramm - und Andreas konnten gerettet werden. Für die Pflege der Jungen hatten die damals 33 Jahre alte Kinderpflegerin Ulrike R. und ihr 39 Jahre alte Ehemann Klaus R. monatlich knapp 1700 Euro erhalten. Außerdem gab es so genannte Tageskinder; an manchen Tagen waren es bis zu acht. Bei dem Strafprozeß gegen die Pflegeeltern waren 1999 dann die Details ans Licht gekommen: Alois, Andreas und Alexander bekamen nur trockenes Brot und Wasser. Einer der Jungen, so heißt es, sei einmal nachts weggelaufen, um in einer Gaststätte um Reste zu betteln. Auch im Mülleimer seiner Schule wühlte er nach Essensresten. Wenn Besuch kam, mußten sie sich in einem abgedunkelten Raum aufhalten. Schließlich, im Sommer 1997, wenige Monate vor dem Tod des kleinen Alexander, wurden sie von den Nachbarn gar nicht mehr gesehen.
Ganz anders erging es den drei leiblichen Kindern der Familie: Sie hatten Computer, Hifi-Anlagen und zwei Pferde. Sie waren gesund. Als Alexander starb, waren seine Augen verdreht, sein Bauch gebläht, er konnte nicht mehr sprechen, sich kaum noch rühren. Und als am 27. November 1997 dann schließlich doch ein Rettungsarzt gerufen wurde, war es zu spät.
Beutelsbach in Baden-Württemberg, 8000 Einwohner, direkt in den Weinbergen gelegen. Das Haus, in dem die Familie damals wohnte, ist zweistöckig und liegt hinter einem Garten. Es ist ein großes Haus mit einem großartigen Ausblick - und es ist ein Schandfleck für die Nachbarschaft. Weil es die Nachbarn immer wieder daran erinnert, was war.
Sehr geschickt sei die Pflegemutter gewesen, heißt es im ersten Prozeß: Mißtrauischen Fragern erzählte sie, die leiblichen Eltern der Kinder wären Alkoholiker. Ja, mit dem Essen täten sie sich auch schwer, die Buben. Ein Schwurgericht in Stuttgart verurteilte das Ehepaar im Juni 1999 zu lebenslänglichen Gefängnisstrafen. Ein Verdeckungsmord. Die Pflegeeltern hätten trotz des katastrophalen Zustands des kleinen Alexander einen Arztbesuch vermieden, um die jahrelangen Mißhandlungen der Pflegekinder zu vertuschen. Die Mutter sagte aus, sie wäre mit den Kindern nicht mehr zu Recht gekommen und hätte sie durch Essensentzug disziplinieren wollen.
In der Regel wird mit so einem Urteil, das vom Bundesgerichtshof ja auch bestätigt wurde, die Akte geschlossen. In diesem Fall gab es jedoch zunächst parallel ein Strafverfahren gegen Mitarbeiter des Jugendamtes des Rems-Murr-Kreises wegen fahrlässiger Tötung. Die Verteidiger von Ulrike und Klaus R. hatten den öffentlich Bediensteten vorgeworfen, sich nach der Vermittlung der Kinder in die Pflegefamilie nicht mehr genügend um die verhaltensgestörten Jungen gekümmert zu haben. Wie hoch der Grad der Unkenntnis über den Zustand der Pflegefamilie war, hatte sich in dem Strafprozeß gegen die Pflegeeltern gezeigt. Eine Mitarbeiterin des Waiblinger Jugendamtes sprach von einer "Musterfamilie", die "einen sehr geordneten, sehr harmonischen Eindruck" vermittelt habe. Das Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter des Jugendamtes wurde dann auch - wie zumeist in derartigen Fällen - eingestellt. Doch ein Anwalt zog vor ein Zivilgericht und forderte im Namen des einstigen Pflegekindes Andreas vom Jugendamt wegen Verletzungen der Amtspflicht Schmerzensgeld, außerdem die Anerkennung der Zuständigkeit des Amtes für künftige materielle und immaterielle Schäden. Und er gewann: Eine Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart sprach dem Jungen am 7. März 2003 ein Schmerzensgeld in Höhe von 25 000 Euro zu und bestätigte die Haftung des Jugendamtes für künftige Schäden. Doch auch die nächste Instanz, der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichtes Stuttgart, wies die Berufung zurück. Mit der Begründung, die Mitarbeiter des Jugendamtes hätten nach Umzug der Pflegefamilie 1993 aus Hof in den Rems-Murr-Kreis sofort Kontakt aufnehmen und sich über die Lebensumstände des Jungen persönlich informieren müssen.
Heute soll dieser Fall vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe nun höchstrichterlich entschieden werden. Es könnte ein Urteil mit Folgen werden.
Berliner Morgenpost 14.10.2004
Tödliche Ignoranz
Ein Kind verhungert, zwei sind lebensgefährlich unterernährt. Die Pflegeeltern werden wegen Mordes verurteilt. Kontrolliert hatte sie das Jugendamt nicht. Dagegen klagt jetzt ein Opfer
Die Welt, 14. Oktober 2004
von Catrin Barnsteiner und Michael Mielke
Es gibt eine Geschichte über das Ende von Alexander, erzählt von seiner Pflegemutter vor Gericht. Kurz bevor das Kind starb, wollte es Leberwurstbrot essen. Und Milch trinken. Es fror. Sein Pflegevater - ein angehender Waldorfpädagoge - soll sich zu ihm gelegt haben. Seine Pflegemutter machte sich Sorgen, sagte sie, ob ein Leberwurstbrot und etwas Milch nicht vielleicht zuviel durcheinander für den Jungen wären. Wenige Stunden später war das Kind tot. Verhungert. Weil es vorher monatelang nur Wasser und Brot bekam, wie sein Bruder Alois und Andreas, ein weiteres Pflegekind. Diese beiden überlebten. Knapp.
Das war im November 1997. Heute ist Andreas 15 Jahre alt, und er klagt gegen das damals zuständige Jugendamt wegen Verletzungen der Amtspflicht auf Schmerzensgeld. Vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe, das den Fall heute höchstrichterlich entscheidet, wird er nicht erscheinen. Es gibt nur diese Fotos, die damals von der Polizei gemacht wurden. Da hatte Andreas das Gesicht eines Greises und wog gerade mal 11,8 Kilogramm. Der Chefarzt der Kinderklinik in Waiblingen sagte, er habe "in der Bundesrepublik solche Kinder noch nicht gesehen. Nur Haut und Knochen, eingesunkene Wangen, eingesunkene Gesäße." Er mußte an Bilder aus Somalia oder Biafra denken.
Der Fall im schwäbischen Beutelsbach, unweit von Stuttgart, wirft Fragen auf. Wie weit soll die Kontrolle des Jugendamts bei Pflegefamilien gehen? Wieviel Kontrolle ist nötig, damit die Kinder sich als vollintegrierte Familienmitglieder entwickeln können, ohne ständig an ihre Besonderheit erinnert zu werden? Professor Wolfgang Krüger, Sprecher des Bundesgerichtshofs, spricht von einem Präzedenzfall. Der Vorwurf, ein Jugendamt habe versagt, weil es Pflegeeltern nicht genügend kontrolliert habe, sei vor dem obersten deutschen Gericht noch nicht verhandelt worden.
Der Fall, das sind drei Jungen, die in einer Pflegefamilie lebten. Alexander, fünf Jahre alt, starb dort. Er war verhungert. Sein Bruder Alois - er war sechs Jahre alt und wog nur zehn Kilogramm - und Andreas konnten gerettet werden. Über die Pflegeeltern sagte der Richter später: "Sie sammelten Kinder wie andere Leute Puppen." Für die Pflege der Jungen hatten die damals 33 Jahre alte Kinderpflegerin Ulrike R. und ihr 39 Jahre alte Ehemann Klaus R. monatlich knapp 1700 Euro erhalten. Außerdem gab es sogenannte Tageskinder; an manchen Tagen waren es bis zu acht. Bei dem Strafprozeß gegen die Pflegeeltern waren 1999 dann die Details ans Licht gekommen: Alois, Andreas und Alexander bekamen nur trockenes Brot und Wasser. Einer der Jungen, so heißt es, sei einmal nachts weggelaufen, um in einer Gaststätte um Reste zu betteln. Auch im Mülleimer seiner Schule wühlte er nach Essensresten. Wenn Besuch kam, mußten sie sich in einem abgedunkelten Raum aufhalten. Am besten im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Schließlich, im Sommer 1997, wenige Monate vor dem Tod des kleinen Alexander, wurden sie von den Nachbarn gar nicht mehr gesehen.
Ganz anders erging es den drei leiblichen Kindern der Familie: Sie hatten Computer, Hifi-Anlagen und zwei Pferde. Sie waren gesund. Als Alexander starb, waren seine Augen verdreht, sein Bauch gebläht, er konnte nicht mehr sprechen, sich kaum noch rühren. Und als am 27. November 1997 dann schließlich doch ein Rettungsarzt gerufen wurde, war es zu spät.
Beutelsbach in Baden-Württemberg, 8000 Einwohner, direkt in den Weinbergen gelegen. Das Haus, in dem die Familie damals wohnte, ist zweistöckig und liegt ein bißchen zurückgesetzt, hinter einem Garten. Es ist ein großes Haus mit einem großartigen Ausblick - und es ist ein Schandfleck für die Nachbarschaft. Weil es die Nachbarn immer wieder daran erinnert, was war.
Ein Mann, der seinen Namen nicht nennen will, wohnt nicht weit von dem Haus mit der Nummer 21. Nein, sagt er, und es klingt wütend. Nein, man konnte es nicht sehen, nein, wirklich nicht, die Buben waren immer gut angezogen, nicht verlottert, nein, niemand hat das geahnt. Niemand hätte es ahnen können. Er sagt all das, obwohl man die Frage für diese Antwort noch nicht gestellt hat. Aber vielleicht hat er sich die Frage schon oft genug selbst gestellt.
Die Frage wäre gewesen: "Ist Ihnen denn damals nichts aufgefallen?" Dann packt der Nachbar die Reporterin am Handgelenk und ruft erregt: "Sie sehen auch unterernährt aus, hören Sie, Sie sind viel zu dünn. Und ich rufe auch nicht das Jugendamt oder die Polizei, verstehen Sie? Es gibt Kinder, die sind eben dünn. Das ist Veranlagung." Er hat auch eine Bekannte, die direkt neben dem Haus der Familie gewohnt hat. Und die, sagt er, und es klingt verzweifelt, würde immer alles bemerken. Etwa wenn bei ihm, am anderen Ende der Straße, die Rolläden nachmittags noch nicht hochgezogen wären, dann bemerke die das. Aber das mit den Kindern, das hätte selbst sie nicht gesehen. Selbst sie.
Sehr geschickt sei die Pflegemutter gewesen, heißt es im ersten Prozeß: Mißtrauischen Fragern erzählte sie, die leiblichen Eltern der Kinder wären Alkoholiker. Ja, mit dem Essen täten sie sich auch schwer, die Buben. Selbst Verwandte, die die Familie im Sommer bevor Alexander starb, besuchten, ließen sich täuschen. Zugegeben, sagten sie später, sie hätten sich ein bißchen gewundert, warum die Pflegekinder selbst im Hochsommer ständig froren und Jacken und Wollmützen trugen. Ein Schwurgericht in Stuttgart verurteilte das Ehepaar im Juni 1999 zu lebenslänglichen Gefängnisstrafen. Ein Verdeckungsmord. Die Pflegeeltern hätten trotz des katastrophalen gesundheitlichen Zustands des kleinen Alexander einen Arztbesuch vermieden, um die jahrelangen Mißhandlungen der Pflegekinder zu vertuschen.
In der Regel wird mit so einem Urteil, das vom Bundesgerichtshof auch bestätigt wurde, die Akte geschlossen. In diesem Fall gab es jedoch zunächst parallel ein Strafverfahren gegen Mitarbeiter des Jugendamtes des Rems-Murr-Kreises wegen fahrlässiger Tötung. Die Verteidiger von Ulrike und Klaus R. hatten ihnen vorgeworfen, sich nach der Vermittlung der Kinder in die Pflegefamilie nicht mehr genügend um die verhaltensgestörten Jungen gekümmert zu haben. Wie hoch der Grad der Unkenntnis über den Zustand der Pflegefamilie war, hatte sich im Prozeß gegen die Pflegeeltern gezeigt. Eine Mitarbeiterin des Waiblinger Jugendamtes sprach von einer "Musterfamilie", die "einen sehr geordneten, sehr harmonischen Eindruck" vermittelt habe. Und Ulrike R., sagte die Sozialarbeiterin, habe sich als "kompetente Frau" präsentiert, "eine Pflegemutter, die alles im Griff hat".
Das Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter des Jugendamtes wurde - wie oft in derartigen Fällen - eingestellt. Doch dann forderte ein Anwalt vor einem Zivilgericht im Namen des einstigen Pflegekindes Andreas vom Jugendamt wegen Verletzungen der Amtspflicht Schmerzensgeld, außerdem die Anerkennung der Zuständigkeit des Amtes für künftige materielle und immaterielle Schäden. Und er gewann: Eine Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart sprach dem Jungen im März 2003 ein Schmerzensgeld in Höhe von 25 000 Euro zu und bestätigte die Haftung des Jugendamtes für künftige Schäden. Das Jugendamt ging gegen diese Entscheidung in Berufung.
Doch auch die nächste Instanz, der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichtes Stuttgart, wies die Berufung zurück. Mit der Begründung, die Mitarbeiter des Jugendamtes hätten nach dem Umzug der Pflegefamilie aus dem fränkischen Hof - der 1993 erfolgte - in den Rems-Murr-Kreis sofort Kontakt aufnehmen und sich über die Lebensumstände des Jungen persönlich informieren müssen. Der Landkreis entgegnete, die Überprüfung einer Pflegefamilie nach einem Wechsel der Zuständigkeit sei weder üblich noch erforderlich, wenn das Pflegeverhältnis über mehrere Jahre bestanden habe und keine negativen Erfahrungen vorlägen.
Bei dem morgigen Urteil des Bundesgerichtshofs geht es um mehr als 25 000 Euro. Die Summe mutet ohnehin auch für Laien gering an. Das, so erklärt Wendt Nassal, der den Rems-Murr-Kreis vertritt, liege daran, daß es tatsächlich nur um wenige Monate gehe: Von April 1997 bis November 1997. Denn bis April 1997 hätten regelmäßige Treffen von Mitarbeitern aus dem Kreis Hof mit der Familie stattgefunden. Die hätten dann ihre Berichte an das Jugendamt Waiblingen geschickt. Während des letzten Besuches im April schien offenbar kein übermäßiger Anlaß zur Besorgnis vorzuliegen - Mitarbeiter des Rems-Murr-Kreises kamen danach nicht zum Haus der Familie. Begründung des Waiblinger Jugendamtes: Man wollte die Kinder nicht mit neuen Gesichtern unnötig belasten.
Auf der Straße in Beutelsbach, fast direkt vor dem Haus mit der Nummer 21, hat ein Kind mit Kreide gemalt. Nichts Besonderes, eigentlich, eben das, was Kinder immer malen.
Es sind Strichmännchen.