Thomas Rauschenbach


 

 

 

Thomas Rauschenbach

Direktor des Deutschen Jugendinstituts - www.dji.de

 

 


 

 

Interviews 15.12.2007

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"Zahl der Kindstötungen seit 15 Jahren nicht gestiegen"

Von Jens Peter Dohmes

Osnabrück.

Das Interview, das der Direktor des Deutschen Jugendinstituts, Thomas Rauschenbach, unserer Zeitung gegeben hat, hat folgenden Wortlaut:

Herr Professor Rauschenbach, Fälle der Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern scheinen sich zu häufen. Oder finden diese heute nur größere öffentliche Aufmerksamkeit?

Das ist schwer zu beantworten. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie groß das Dunkelfeld ist - ob es früher viele Fälle gab, die nur nicht öffentlich wahrgenommen wurden. Aber: Auf der Basis der polizeilichen Kriminalstatistik hat die Zahl der Misshandlungen von Schutzbefohlenen leicht zugenommen, während die leichten, vorsätzlichen Körperverletzungen nicht gestiegen sind. Und, das ist meines Erachtens das Wichtigste: Die Zahl der Kindstötungen hat sich in den letzten 15 Jahren nicht erhöht.

Wie viele Kinder sind von Verwahrlosung und Misshandlungen betroffen?

Auch das ist sehr schwierig zu sagen. Wenn Sie die polizeilich registrierten Misshandlungen von unter Sechsjährigen betrachten, sind drei von 10000 Kindern betroffen, also lediglich 0,03 Prozent. Bei 135 von 10000 Kindern unter sechs Jahren gehen die Eltern zur Erziehungsberatung, das sind 1,35 Prozent. Die extremen Fälle, über die jetzt berichtet wird, liegen im Promillebereich. Das sind absolute Einzelfälle. Die Zahl der getöteten Kinder unter sechs Jahren liegt seit Jahren stabil bei rund 200. Ich will keinen einzigen Fall kleinreden, aber in einer Gesellschaft, die so kompliziert ist wie unsere, müssen wir mit solch dramatischen Fällen rechnen - auch in Zukunft. Dennoch müssen wir natürlich alles tun, um sie zu verhindern.

Es wird der Vorwurf erhoben, bei den Jugendämtern werde gekürzt, aber eigentlich müsste man das Personal aufstocken. Sehen Sie das auch so?

Den ersten Aspekt sehe ich nicht so, den zweiten schon. Es gibt keine statistischen Hinweise darauf, dass wir einen massiven Abbau in der Kinder- und Jugendhilfe zu verzeichnen haben. Die Ausgaben stagnieren derzeit. Allerdings brauchen wir mehr und vor allen Dingen besser geschultes Personal; es muss in die Aus- und Weiterbildung investiert werden, damit die Fachkräfte den oftmals schwierigen Anforderungen, denen sie in der Praxis begegnen, auch gewachsen sind. Allerdings nimmt die Zahl zielgerichteter Maßnahmen des Kinderschutzes deutlich zu. Der oft vermittelte Eindruck, dass in der Jugendhilfe nichts getan werde, ist falsch. Nicht zuletzt die größere Sensibilität durch die Fälle der vergangenen Zeit hat dazu geführt, dass die Jugendämter inzwischen lieber einmal zu viel etwas machen als zu wenig. Man kann den Behörden pauschal keinen Vorwurf machen.

Wie passt dazu, dass Bundesjustizministerin Brigitte Zypries die Jugendämter jetzt aufgefordert hat, schneller die Familiengerichte einzuschalten, wenn sie Verdacht schöpfen?

Das ist eine Fachdebatte zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und der Justiz. Mir sind viele Vorschläge die jetzt kommen viel zu ordnungspolitisch gedacht, viel zu sehr in Richtung Kontrolle und Zwang. Ich helfe nicht einer Familie, die in sozial oder psychisch dramatischer Not ist, indem ich sie zu irgendetwas zwinge. Wir werden auch nicht durch eine einzige Vorsorgeuntersuchung irgendjemanden daran hindern können, dass er drei Wochen später durchdreht und seinem Kind etwas antut. Wir müssen umgekehrt fragen: Sind die Familien in der heutigen Zeit genügend vorbereitet? Eltern haben laut Verfassung das Recht und die Pflicht, für ihre Kinder zu sorgen. Aber sind sie ohne weiteres dazu fähig? Da müssen wir ansetzen! Vom Kontrollieren wird das Erziehungsverhalten nicht besser. So können Sie vielleicht die schwarzen Schafe entdecken, aber deren Zahl ist gering. Ich kann doch nicht 100000 Familien prüfen, um vielleicht zehn problematische Fälle zu finden!

Eine Pflicht zu Vorsorgeuntersuchungen, wie sie jetzt vielfach gefordert wird, halten Sie für wirkungslos?

Es gibt - auch international - keine Anzeichen für eine positive Wirkung. Nirgends, wo eine solche Pflicht eingeführt wurde - etwa in Australien -, hat dies zum Rückgang der Kindstötungen geführt. Verbindliche Vorsorgeuntersuchungen - dieses Anliegen finde ich in Ordnung. Es macht Sinn, wenn das Jugendamt sagt: Wir gehen in die Familie, denn die haben sich zur Vorsorgeuntersuchung nicht gemeldet. Aber das müssen sie tun, um Hilfe zu leisten und nicht um zu kontrollieren! Allein durch Kontrolle kommen wir nicht weiter. Das wäre so, wie zu sagen: Wir schaffen Unfälle ab, indem wir an jeder Ecke einen Polizisten hinstellen! Wir können die Familien nicht mit Fußfesseln überprüfen. Alle Welt will derzeit etwas machen, das ist verständlich. Aber wir dürfen nicht in einen Aktionismus verfallen, der nicht mehr fragt, ob das jetzt gefühlte Hilfe oder reale Hilfe ist.

Was halten Sie davon, Kinderrechte als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern?

Das kann ich juristisch nicht genügend beurteilen. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass zwischen Elternrecht und Kindeswohl ein Spannungsverhältnis besteht. Wir haben in Deutschland stets unterstellt, dass Eltern für ihre Kinder immer das Beste wollen. Und im Moment erfahren wir schmerzlich, dass das eben nicht in allen Fällen gilt. Deshalb ist es wichtig, dass wir über verbesserte Kinderrechte nachdenken. Der Satz "Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung" muss daher an Bedeutung gewinnen. Deswegen brauchen wir die gesellschaftliche Diskussion darüber, wie wir uns als Bürgergesellschaft um das Aufwachsen unserer Kinder so kümmern können, dass Missbrauch, Verwahrlosung und Tötung von Kindern nach Möglichkeit nicht mehr passieren. Dann ist das keine Privatangelegenheit mehr. Die Eltern haben das Erstrecht zur Erziehung, aber sie müssen sich gegenüber der staatlichen Gemeinschaft dafür verantworten, wie sie ihre Kinder behandeln.

 

http://www.neue-oz.de/information/noz_print/interviews/18306219.html

 

Neue Osnabrücker Zeitung, 15.12.2007

 

 

 


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