Trennung und Scheidung
Schuld und Schuldgefühl
"Schuld und Schuldgefühl im Zusammenhang mit Trennung und Scheidung"
Mathias Hirsch
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5 Rollenumkehr
Das Kind wird für die narzißtischen Bedürfnisse, als Ausfüllung der narzißtischen Wunde der Mutter benutzt (Faimberg 1987). Es versucht, sich empathisch in die Mutter einzufühlen, in einer Art Rollenumkehr sorgend einen Defekt der Eltern auszufüllen (Grubrich-Simitis 1979, S. 1006). Wenn diese Befunde auch für die Dynamik zwischen Extremtraumatisierten und ihren Kindern erhoben wurden, kann man sie durchaus auch auf minderschwere Verlusttraumata übertragen. Kogan (1990) beschreibt ähnlich, daß die Kinder in der Sorge um die unzulänglichen Eltern mit ihnen symbiotisch Verschmelzen, daß sie in der Phantasie das Trauma der Eltern wiederzubeleben trachten, um sie zu verstehen, und versuchen, die inneren Objekte der Eltern wiederherzustellen, was mit einer Selbstaufgabe einhergeht. ...
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Aber das Bedürfnis, <Mutter für die Mutter> zu sein, entsteht bereits aus einem Schuldgefühl, verantwortlich zu sein für den Zustand der Mutter; das bedeutet, daß das Kind nicht völlig eins ist mit der Mutter, nicht ebenso leer, sondern wenigstens so weit getrennt, daß es die Mutter ändern will.
Sollen Kinder für ihre Eltern mütterliche Funktionen übernehmen, spricht man von Rollenumkehr, auch Parentifizierung, und die Kinder identifizieren sich — notgedrungen - mit diesen Anforderungen (vgl. Hirsch 1987, 1997), um die Eltern sozusagen wieder lebendig zu machen. Dadurch soll das Schuldgefühl vermindert werden, Trennung und Scheidung verursacht oder nicht verhindert zu haben. Aber da das Kind diese Aufgabe nie erfüllen wird, entsteht ein zusätzliches Schuldgefühl, versagt zu haben. Das Kind schwankt zwischen dem manischen Hochgefühl, die Eltern retten zu können, und der Depression, versagt zu haben (vgl. Kestenberg 1995, S. 197).
Eine weitere Form des Schuldgefühls im Sinne eines Überlebenden-Schuldgefühls, eines Schuldgefühls, besser zu leben oder leben zu wollen als das Liebesobjekt (Modell 1971) wird hauptsächlich von den im Vergleich mit der <toten Mutter> auch nur durchschnittlichen Lebendigkeits- und Aggressionsbestrebungen des Kindes genährt, so daß Erfolg zu haben, zu konkurrieren, zumal mit den traumatisierten Eltern, nicht möglich ist. Solche wie auch ödipale Bestrebungen erzeugen unter diesen Umständen ein Schuldgefühl aus Vitalität (Hirsch 1997), wie ich es genannt habe. Ähnlich werden Wünsche, sich von den Eltern zu lösen, auch nur eine andere Meinung haben oder ein eigenes Leben führen zu wollen, schwere Trennungsschuldgefühle verursachen.
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Die Funktionalisierung des Kindes wird in der Trennungs- bzw. Scheidungsphase eher noch verstärkt. Das Kind wird zum Bündnis- oder Koalitionspartner gegen den jeweils anderen gemacht, es wird umworben, um die schlechten Eigenschaften und insbesondere die angenommene Schuld des Anderen zu bestätigen und den Werbenden zu entlasten. Die Kinder dienen jetzt nicht mehr der Aufrechterhaltung der Ehe, sondern werden im Gegenteil - von beiden Eltern - benutzt, um die Trennung zu zementieren (Bauers et al. 1986, S.91). Vorpubertäre Kinder werden schon einmal vom zutiefst gekränkten Vater mit der Aussage konfrontiert: <Eure Mutter hat mich betrogen, sie hat Sex mit einem Dahergelaufenen, sie hat unsere Familie kaputtgemacht!> Die Entwertung des anderen Elternteils ist oft ein Teil eines pseudo-ödipalen Agierens (vgl. Hirsch 1988), d.h. die Herabsetzung stellt eine Verführung dar anzunehmen, der kleine Sohn sei besser als der Vater, die kleine Tochter besser als die Mutter, sie seien die jeweils Auserwählten. Auch hier erzeugt überhaupt erst das Agieren der Erwachsenen das dann ödipal genannte Schuldgefühl des Kindes. Besonders schädigend ist es für Jungen, die bei der Mutter bleiben und dort einerseits als pseudo-ödipaler Partnerersatz dienen, als <auserwählter> kleiner Mann der Mutter sich als jemand Besonderes fühlen müssen, andererseits aber wegen des gleichen Geschlechts mit dem Vater identifiziert und abrupt mit dessen negativen Eigenschaften, wie sie jedenfalls von der Mutter erlebt werden, belegt werden: <Du bist genauso ein Macho wie dein Vater!> Hier wird eine Grenzverwischung betrieben, indem die Eltern den Kindern die Ursachen für das Scheitern der Ehe zuschieben, sie stellvertretend zum Ziel ihrer Wut und Ambivalenz machen, ihnen Betrug, Loyalitätsverletzung vorwerfen. ...
... Schuldzuweisungen gegen den jeweils Anderen werden über das Kind ausagiert (Reich u. Bauers 1988); der Streit um das Sorgerecht (das m.E. besser Sorgepflicht heißen müßte) artet zu einem Machtkampf aus, wird zur Ausübung von Rache verwendet, auch eben zur Schuldzuweisung benutzt, ungeachtet eines wohlverstandenen Kindeswohls. Schuldzuweisungen sind zwar die gewöhnlichste Art der Vermeidung von Schuldanerkennung (Hirsch 1997, S. 60), sind aber per se bereits Ausdruck von Schuld, denn der Aufgabe der Untersuchung eigener Anteile in Partnerkonflikten wird ausgewichen.
Solche Loyalitätsforderungen entspringen einer Art Irrtum, daß sich die Kinder vom anderen Elternteil genauso <entlieben>, wie das die Eltern voneinander tun oder tun sollten (Einnolf 1999); Kinder haben aber das Bedürfnis und das Recht, die Beziehung zu beiden Eltern aufrechtzuerhalten. Eine extreme Form dieses Bündniszwanges stellt die bestenfalls einer Phantasie entsprechende Behauptung einer Mutter dar, der Vater habe das Kind sexuell mißbraucht; das wäre wahrlich ein Mißbrauch des Mißbrauchs. Oder ein narzißtisch gekränkter Vater, der sich sonst nie gekümmert hat, entführt das Kind in dem wahnhaften Glauben, es stehe ihm zu und alle hätten sich verschworen, ihm das Kind zu nehmen.
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ausführlich in: "Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie", 50; 45-58 (2001), ISSN 0032-7034
Anschrift des Verfassers: Mathias Hirsch, Simrockstraße 22, 40235 Düsseldorf