Reichskammergericht


 

 

 

 

Süddeutsche Zeitung

Irrweg Rechtsweg

Ein Vater will sein Kind sehen — und erlebt eine Odyssee durch die deutsche und europäische Gerichtsbarkeit.

Von Heribert Prantl

Historische Gerichtsszene

Goethe berichtet, wie lange es gedauert hat, bis man einst beim Reichskammergericht zu Wetzlar Recht bekommen hat: Dort wurden die Akten unterm Dach aufgehängt und erst dann bearbeitet, wenn der Strick durchgefault war.

Der Rechtsstaat unterscheidet sich von den alten Zeiten dadurch, dass es einen solchen Dachboden nicht mehr gibt. Das Recht ist schneller geworden; es gibt wunderbare Rechtswege, auf denen sich das Recht oft schnell und so kopflos hin und herbewegt, dass derjenige, der es sucht, unter die Räder kommt.

So in dem Fall, bei dem ein Vater seit der Geburt seines nichtehelichen Kindes vor fünf Jahren vergeblich versucht, sich ein Umgangsrecht zu erstreiten: Der Streit führt von Wittenberg und Naumburg nach Karlsruhe, von da nach Straßburg, zurück nach Wittenberg, wieder nach Karlsruhe, wieder nach Naumburg, Wittenberg und Karlsruhe. Und weil der Vater nicht gestorben ist, sucht er sein Recht noch heute.

Es ist wie ein böses Märchen: Es war einmal ein hohes Gericht in Straßburg, das blickte mit Verdruss auf Urteile, die in Sachsen-Anhalt gefällt wurden.

Es hob seinen Zeigefinger und sprach: Da ist einem Vater Unrecht geschehen. In unserem Gesetzbuch der Menschenrechte steht, dass er mit seinem Kind Umgang pflegen darf. Den Vater freute dies. Er eilte zum heimischen Familiengericht in Wittenberg, um sich sein Recht abzuholen, und erhielt es nun.

Aber seine Widersacher wollten ihm das Kind dennoch nicht anvertrauen und wandten sich an das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg. Der dort zuständige Senat war über die Straßburger Schelte verärgert: was geht uns Straßburg an? Er entschied also, dass der Vater seinen Sohn weiterhin nicht sehen darf.

Der Vater machte sich auf den Weg nach Karlsruhe und bat das höchste deutsche Gericht um Hilfe: Wie kann es sein, dass mir in Straßburg Recht gegeben, in Naumburg aber wieder genommen wird?

Die hohen Richter grübelten und verkündeten, deutsche Gerichte seien zwar nicht an den Spruch des Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg gebunden, müssten ihn aber beherzigen und dürften nur mit guten Gründen von ihm abweichen.

Weil dies der Naumburger Senat missachtet hatte, hob Karlsruhe dessen Entscheidung auf und bestimmte, ein anderer Senat des OLG solle nun über das Recht des Vaters entscheiden. Dieser andere Senat schaute sich den Fall an und sagte: Tut uns leid, wir halten uns nicht für zuständig.

So belehrt zogen die Widersacher des Vaters ihre Beschwerde zurück. Nun war wieder das Familiengericht Wittenberg am Zug. Es urteilte, der Vater dürfe sein Kind ab sofort sehen.

Aber war da nicht ein anderer Senat in Naumburg, der sich für den Fall vorher nicht nur für zuständig, sondern auch für befugt gehalten hatte, über Beschwerden zu befinden?

So kam es, dass dieser Senat von den Widersachern des Vaters wieder um Hilfe gerufen wurde, den Ruf erhörte und erklärte, dem Familiengericht Wittenberg müsse erst einmal nicht gefolgt werden. Der Vater ist nun wieder so weit wie am Anfang.

Er hat am Mittwoch erneut Verfassungsbeschwerde eingelegt. Irgendwann wird er wohl doch noch Recht erhalten. Dann wird sein Kind ihm fremd geworden sein und nichts mehr von ihm wissen wollen.

Man hätte die Akten also auch, wie einst, auf den Dachboden hängen können.

 

SZ vom 16.12.2004

www.sueddeutsche.de/panorama/artikel/833/44789/print.html

 

 

 


 

 

Offenbar ist die von Goethe beklagte Langsamkeit des Reichskammergericht auch noch heute gerichtliche Realität. So z.B. am Amtsgericht Flensburg, wo der Antrag eines Vaters auf Umgangsregelung mit seinen beiden Töchtern von 1996 bis 2004 unentschieden blieb und nach 8 Jahren faktischer Untätigkeit der zuständigen Richter schließlich in die Androhung der zuständigen Richterin gegenüber dem  rechtssuchenden Vater mündete, den Umgang auszuschließen.

Die Geschichte finden Sie hier.

 

 

 


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